Cedars Hollow (German Edition)
Junge, der dort zwischen den schiefen Grabsteinen stand, hatte trotz seiner menschlichen Gestalt gewisse Ähnlichkeit mit einem Raben. Sein Haar war tiefschwarz und verstrubbelt, sein Blick gri m mig. Er hatte dunkle Augen wie der Vogel, der er vor einer Sekunde noch gewesen war. Seine Haut hingegen war wachsweiß.
Der schwarzhaarige Junge sah mir in die Augen. Sein Blick brannte sich in meinen.
„Hazel!“, rief Dave. „Lauf weg!“
Der Rabenjunge stürzte sich auf Dave.
„Mach schon!“ Dave wehrte sich keuchend gegen den Angriff des anderen. „Lauf!“
Im ersten Moment war ich mir nicht sicher, ob ich überhaupt in der Lage war, mich zu bewegen. Unglaublich, was ich eine Sekunde zuvor gesehen hatte!
Ein Kribbeln wanderte über meine Haut und mein Rückrat hinab. Ich konnte diesen Blick nicht vergessen, diese schwa r zen Augen und die Entschlosse n heit in ihnen. Und obwohl ich Angst hatte, war ich gleichzeitig fasziniert.
Doch dann fing ich mich wieder, und meine Feigheit siegte über meine Neugier. Ich konnte einfach nicht anders, als Dave zu geho r chen. Während eine Mischung aus Panik und G e banntheit in meinen Adern brannte, taumelte ich zurück und lief weg. Durch das Eisentor, über die Straße, vorbei an trostlosen Häuserreihen und kahlen Bä u men, die sich in Richtung Himmel streckten. Immer weiter.
Lauf!
Immer wieder stolperte ich und fiel beinahe auf den harten Asphalt der Straßen. Noch lange, nachdem der Friedhof weit hinter mir lag, hörte ich in meinem Kopf das Krächzen des Raben und Daves ve r zweifelte Rufe.
Ich war in Sicherheit, kam mir aber vor wie ein verdammter Fei g ling.
Corvus
W ährend der gesamten nächsten Woche gingen mir Dave und der Rabenjunge nicht mehr aus dem Kopf. Ich schrieb das, was ich auf dem Friedhof gesehen hatte, meinem angeschlagenen Verstand zu und versuchte mir einzureden, meine Fantasie hä t te mir einen Streich gespielt, aber irgendwie konnte ich mich selbst nicht davon überze u gen.
In meiner Trauer hatte ich nicht begriffen, dass mir in meinem L e ben etwas Neues, Aufregendes fehlte. Dass ich vielleicht die ganze Zeit über gehofft hatte, dass etwas Derartiges passieren würde. Fr ü her hatte ich so etwas nicht gebraucht; früher, als meine Mom noch bei mir gewesen war. Aber jetzt …
Die Wahrheit war, dass ich daran glauben wollte, dass das, was ich gesehen hatte, in Wirklichkeit passiert war. Es hatte mich aufgeweckt. Aufgerüttelt.
Allerdings entschuldigte das mein Verhalten nicht. Ich hätte die P o lizei rufen müssen. Die Polizisten hätten mir die G e schichte von dem Raben, der sich vor meinen Augen in einen Menschen verwandelt hatte, zwar nicht abgenommen, aber vielleicht hätte ich mich trot z dem nicht so schuldig gefühlt.
Wenn ich über den Vorfall nachdachte, folgte immer ein G e danke dem anderen. Ich war mir sicher, dass der schwarzhaarige Junge g e fährlich war, aber was war mit Dave? Bisher war ich ihm gegenüber misstrauisch gewesen, und doch er hatte mich weggeschickt, um mich vor dem anderen zu b e schützen. Oder etwa nicht?
Ich traf Dave während der gesamten Woche nicht wieder. Den G e danken, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte, schob ich von mir und mauerte ihn säuberlich irgendwo ganz hinten in meinem Kopf ein.
Das Wochenende verlief ohne Zwischenfall. Weil mein Vater sich seit dem Tod meiner Mutter entweder in seinem Büro aufhielt oder sich in sein Zimmer z u rückzog, erledigte ich die Einkäufe und machte den Hau s halt. Ich arbeitete an meinen Hausaufgaben, konnte mich aber nicht auf das konzentrieren, was Mr. Lewis uns aufgehalst hatte. Ich hasste Mathe, vor allem Trigonome t rie, und ich hasste Mr. Lewis, weil er das genau wusste und mich im Unterricht trotzdem ständig aufrief.
Nach einer halben Stunde sinnlosen Rumsitzens klappte ich das Schulbuch zu und pfefferte es auf mein Bett. Den Rest des Tages beschäftigte ich mich mit anderen, meiner Meinung nach sinnvolleren Dingen.
Am Montag erlebte ich eine unangenehme Überraschung. Mr. L e wis schrieb einen unangekündigten Test mit uns, und zum ersten Mal in meinem Leben bereute ich es, die Mathehausaufgaben nicht g e macht zu haben. Ich versagte auf ganzer Linie.
Als die Schulglocke schließlich das Ende des Nachmittagsunte r richts verkündete, sprang ich erleichtert auf und stopfte meine Schu l sachen in die Tasche. Ich verabschiedete mich von Joanne und ließ Adam, der sich vor der Klassenzimmertür mit einem Kameraden
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