Cedars Hollow (German Edition)
dich?“
Seine Frage wirkte seltsam auf mich. Ich gab keine Antwort und überlegte, was er wohl hören wollte.
„Würdest du … mich vermissen?“ Seine Stimme klang rau, und er beugte sich in meine Richtung und schaute mich ei n dringlich an.
„Ich …“ Ich fühlte mich ein bisschen unbehaglich, weil er so o f fen danach fragte. „Ich weiß nicht“, antwortete ich.
„Hm.“ Er grinste und kam noch näher. Seine kühle Hand streifte meine, und er lehnte sich in meine Richtung und atmete tief ein. „Du riechst gut.“
Verlegen betrachtete ich meine Fingerknöchel.
„Hab ich was Falsches gesagt?“, fragte Dave, als ich nicht antwort e te.
„Nein“, erwiderte ich hastig, „überhaupt nicht. Ich bin es nur nicht gewohnt, dass man so etwas zu mir sagt.“
„Tatsächlich?“ Er lächelte. „Das sollte man aber. Es ist wahr.“
Ich lächelte, doch mein Unbehagen blieb. Inzwischen fragte ich mich, ob es nicht vielleicht besser gewesen wäre, nicht mit ihm mi t zugehen. Andererseits war er jedoch die einzige Person, mit der ich so offen reden konnte. Und ich ha t te ihn gern.
Wir standen noch immer reglos nebeneinander; Menschen ei l ten an uns vorbei, ohne dass ihre Hast uns berühren konnte. Es war eiskalt und windig. Die gefallenen Blätter rollten nun schneller über die Pflastersteine. Rauch wirbelte aus den Schornsteinen, und vor einem kleinen Lebensmittelladen ve r kaufte ein alter Mann heiße Maronen.
„Ich sollte jetzt nach Hause gehen.“ Normalerweise hätte ich vie l leicht so etwas gesagt wie: Mein Dad macht sich sicher schon Sorgen, wo ich bleibe. Doch diesmal sagte ich nichts dergleichen, weil es g e logen gewesen wäre. Dave wusste das mit Sicherheit genauso gut wie ich.
„Na schön.“ Er wirkte nicht überrascht. „Mach’s gut.“
„Pass auf dich auf“, entgegnete ich.
„Natürlich. Mach dir keine Sorgen, Corvus wird mich nicht in seine Finger kriegen.“ Er lächelte schwach und rieb sich die Stirn. „Wir sehen uns bald wieder. Wenn du nichts dagegen hast, versteht sich.“
Er wartete meine Antwort nicht ab, sondern machte auf dem A b satz kehrt und ging davon.
„Wie geht’s dir?“, fragte mich Dad, als er abends nach Hause kam.
„Ganz gut“, antwortete ich einigermaßen wahrheitsgetreu.
„Schön.“ Sein Blick schweifte schon wieder in die Ferne.
Ich verschwand nach oben in mein Zimmer und schnappte mir Oscar Wildes ‚Ernst sein ist alles’, das ich für die Schule l e sen sollte. Ich versuchte mich auf die Handlung des Buches zu konzentrieren, musste aber nach zehn Minuten aufgeben. Ständig erschien Daves Gesicht vor meinem inneren Auge, und ich dachte an seine seltsamen Worte.
Kein Mensch darf davon wissen.
Frustriert stand ich auf, öffnete das Fenster und atmete die kühle Oktoberluft ein. Es war bereits dunkel draußen. Ein leichter Regen hatte eingesetzt.
Ich zuckte zusammen, als ein Krächzen die Stille durc h schnitt. In den Bäumen vor unserem Haus rauschte der Wind. Ich spähte in die Dunkelheit und erhaschte aus dem Augenwinkel eine schwache B e wegung.
Direkt unter meinem Fenster stand eine in Schwarz gekleidete G e stalt mit schneeweißer Haut. Regentropfen hatten sich im dunklen Haar des Fremden verfangen. Ich kniff die Augen z u sammen und hoffte, dadurch noch etwas mehr erkennen zu können.
Dann erkannte ich Corvus. Ich schnappte nach Luft und schlug mir im nächsten Moment die Hände vor den Mund, doch es war zu spät. Der Junge sah nach oben, direkt zu meinem Fenster.
Ich weiß nicht, was ich erwartete. Vielleicht, dass er sich in e i nen Raben verwandeln, zu meinem Fenster fliegen und mir mit seinen Krallen das Gesicht zerkratzen würde. Doch nichts g e schah. Er sah mich ganz einfach an, ehe er sich umdrehte und zwischen den Stä m men der Bäume verschwand.
Als ich am Donnerstag das Schulgebäude verließ, traf mich fast der Schlag. Da stand er, die Hände in den Hosentaschen, auf seinen Fu ß ballen balancierend, und warf immer wieder aufmerksame Blicke über den Schulhof. Sein schwarzes Haar war verstrubbelt, und eine Zig a rette steckte zwischen seinen Lippen. Seine gesamte Erscheinung erinnerte mich an einen dieser lässigen Filmschauspieler.
Instinktiv sah ich mich nach möglichen Fluchtwegen um. Da es keine Möglichkeit gab, an ihm vorbeizukommen, ohne dass er mich sah, versteckte ich mich hinter einem Gebüsch und wartete.
Nach einigen Minuten schien die Warterei ihn tatsächlich zu ärgern. Er blickte sich
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