Charlottes Traumpferd | Gefahr auf dem Reiterhof
hatte mir einen Zweitschlüssel für seinen Spind gegeben, in demdas Putzzeug für Gento stand. Ein eigener Spind in der zweiten Sattelkammer war ein Privileg, das eigentlich nur den Pferdebesitzern vorbehalten war. Natürlich waren die anderen beinahe vor Neid geplatzt, und erst, als sie merkten, dass ich Gento nur putzen, aber nicht reiten durfte, wurde es ihnen gleichgültig.
Ich war glücklich. Von meinem gesparten Taschengeld kaufte ich anständiges Putzzeug, Schweifspray und Huffett, denn mit den alten Wurzelbürsten, die Herr Lauterbach hatte, konnte man nichts mehr anfangen. Seitdem führte mein Weg vom Schulbus mittags nicht direkt nach Hause, sondern erst bei Gento vorbei. Er stand in einer Außenbox, deshalb konnte ich zu ihm, auch wenn der Stall über Mittag geschlossen war. Ich putzte ihn jeden Tag, schrubbte und fettete seine Hufe, verlas seinen prachtvollen Schweif und ließ mir zeigen, wie man eine Mähne verzieht. Mindestens einmal in der Woche putzte ich das Sattelzeug, das bis dahin schrecklich ausgesehen hatte. Die Möhren und Äpfel für Gento wusch ich gründlich und schnitt sie in kleine Stücke, außerdem goss ich immer etwas Sonnenblumenöl über die Möhren, weil ich gehört hatte, dass dadurch das Fell mehr Glanz bekam. Ich führte den braunen Wallach herum, ließ ihn grasen oder saß in seiner Box und unterhielt mich mit ihm.
Musste ich für die Schule lernen, nahm ich meine Schulbücher mit und las ihm vor, und schon bald war es nicht mehr zu bestreiten, dass Gento auf mich wartete.
Eines Tages traf ich Herrn Lauterbach, und er lobte mich für die gute Pflege.
»So hat Gento wirklich noch nie ausgesehen«, stellte er fest und ich wurde vor Glück rot. »Er glänzt ja wie eine reife Kastanie!«
Hin und wieder wurde ich von Stefan und den anderen älteren Jugendlichen im Stall verspottet.
»Der Lauterbach nutzt dich doch nur aus«, sagte Stefan an einem Nachmittag, als ich Gento am Halfter auf dem schmalen Grünstreifen neben dem Springplatz grasen ließ, damit sein frisch gewaschener Schweif in der Sonne trocknen konnte. »Wenn er dich wenigstens für deine Sklavendienste reiten lassen würde, dann könnte ich das noch verstehen, aber so …«
Auf den Gedanken, Gento reiten zu wollen, wäre ich im Traum nicht gekommen. Das Pferd war ein sehr gutes Springpferd und ich leider keine besonders gute Reiterin. Das Gespött von Stefan, Dani, Anike und den anderen Älteren prallte an mir ab. Sie waren ja nur neidisch. Ich war glücklich mit Gento und wenn meine Eltern nicht verlangt hätten, dass ich abends nach Hause kam, so hätte ich glatt bei ihm in der Box geschlafen.
Alles war wunderbar, wäre da bloß nicht der Urlaub in Frankreich gewesen!
An der Bushaltestelle in Bad Soden wartete ich auf meine Schwester Cathrin, die ein Jahr jünger war als ich und mit Pferden genauso wenig am Hut hatte wie meine Brüder Phil und Florian. Cathrin war mit demselben Bus gekommen wie ich, aber sie brauchte eine halbe Ewigkeit, um sich lautstark und tränenreich von all ihren Freundinnen zu verabschieden. Irgendwann ergriff ich ihren Arm und zog sie mit.Sie stolperte rückwärts neben mir her und winkte schluchzend den Mädchen aus ihrer Klasse, als ob sie morgen nach Amerika auswandern und sie niemals wiedersehen würde.
»Kannst du meine Tasche mit nach Hause nehmen?«, fragte ich sie. »Dann kann ich schnell noch in den Stall und mich für eine Reitstunde eintragen.«
Meine Schwester drehte sich um, wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen und überlegte kurz. Ein berechnender Ausdruck trat in ihre Augen.
»Aber nur, wenn ich heute Nachmittag mitkommen und dir zugucken kann«, entgegnete sie.
Das passte mir gar nicht und das wusste Cathrin genau. Ich mochte es nicht, wenn meine Schwester mich in den Reitstall begleitete. Es mochte eigenartig klingen, aber im Stall war ich ein anderer Mensch und schämte mich in Grund und Boden, wenn meine Geschwister alberne Fragen stellten und mich damit vor den anderen blamierten. Aber heute war Ferienanfang und deshalb zeigte ich mich großmütig. Wahrscheinlich hatte sie es sich in ein paar Stunden sowieso schon wieder anders überlegt, denn meine Schwester änderte ihre Pläne oft innerhalb von Minuten.
»Klar«, sagte ich also. »Wenn ich überhaupt noch einen Platz kriege.«
Cathrin grinste zufrieden über ihr ganzes sommersprossiges Gesicht. An der zweiten Straßenecke ergriff sie meine Tasche, wir trennten uns, und ich
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