Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
Vom Netzwerk:
zurückkehrte, tröstete es mich, wieder den vertrauten Schmerz zu fühlen.
    Im eigenartigen deutschen Bett waren die Laken fest eingesteckt gewesen und hatten jeden Hinweis darauf gelöscht, dass ich drinnen gelegen hatte, was mir besonders stark auffiel, weil Karlsruhe selbst entschlossen schien, mich von sich auszuschließen. Ich hatte in Karlsruhe nichts mehr zu tun, keinen Grund mehr, überhaupt geboren worden zu sein.
    Wie ich mein wahres Ich vermisste, den schwefligsalzigen Geruch der Zisterne, den muffigen Geruch der trocknenden Wischlappen, das rotäugige Kind, das unterm Frühstückstisch mit den Nagelschuhen scharrte.
    Auf dem harten, vorhanglosen Bett sitzend sah ich, dass man jede Spur dessen, wer oder was ich war, gewissenhaft getilgt hatte. Die einzige charakterliche Eigenart stammte von einem Zimmermädchen, das Marotten an den Tag legte, wie ich sie zuvor für typisch Englisch gehalten hatte. Soll heißen, sie hatte all die kleinen privaten Gegenstände, die von mir auf dem Nachtschrank deponiert worden waren, kunstvoll angeordnet. Solche Altäre wurden in Low Hall immerzu errichtet, was sogar Anlass für manchen Ärger gewesen war, da beide, Maisie wie Elsie, ständig die wohlüberlegte Anordnung der Dinge im Kinderzimmer durcheinandergebracht hatten. Als ein Beispiel (nur eines von mehr als zwanzig) sei die kleine Laternenuhr aus Messing erwähnt, die unsere Tochter in ihren letzten Tagen so tröstlich fand und folglich ›Alice’ Uhr‹ genannt wurde. Meine Frau zog es vor, wenn dieses kleine Memento auf dem Kaminsims links von der Mitte stand und konnte in ihrem Kummer sehr entschlossen auf dem richtigen Platz beharren – gerade links von der Mitte und leicht gedreht, so dass die Uhr vom Bett aus deutlich zu sehen war.
    Doch Zimmermädchen hören nicht. Und Zimmermädchen lieben es, sich einzumischen. Zwei Zimmermädchen sind dabei doppelt so schlimm wie eines, da jedes zu seiner Zeit (Maisie musste ›die Sachen packen‹, ehe Elsie eingestellt wurde) die Uhr in die Mitte des Kaminsims rückte und parallel zur Wand ausrichtete. Dass Elsie es Maisie gleichtat, ließ meiner Frau nur die Wahl, sie ebenfalls zu entlassen oder ohne die Uhr auszukommen. Zu guter Letzt fand sie es einfacher, die Uhr ›verschwinden‹ zu lassen, was dazu führte, dass die arme Elsie, die zu nervösen Zuständen neigte, ihre fünf Jahre in unserem Dienst damit verbrachte, sich um die ›vermaledeite Uhr‹ zu sorgen und düstere Vermutungen darüber anzustellen, welcher ehemalige Dienstbote ›es‹ gewesen war.
    Ich habe die übrigen Arrangements der Zimmermädchen, deren Folgen weit über das Kinderzimmer hinausgingen, gar nicht erst angesprochen. Doch als ich in Karlsruhe schließlich begriff, dass Manschetten und Kompass, das emaillierte Miniaturbild meines Sohnes, Kartenspiel, Stifte, das Sovereignmedaillon sowie all die übrigen kleinen Utensilien des Lebens wie von einer Elster angeordnet worden waren, nun, da geriet ich – aus Gewohnheit? – ein wenig in Sorge. Oje, dachte ich, das gibt Ärger.
    Ganz wie Nelsons Säule standen in der Mitte der Kommode meine aufgerollten Pläne, und um diesen Obelisken herum angeordnet erwiesen ihnen die übrigen Gegenstände untertänigen Respekt. Die Pläne selbst hatte man auf schlichteste Weise mit einem königsblauen Band geschmückt, das zudem, wie ich erst allmählich begriff, dem Zwecke diente, einem kleinen Notizzettel Halt zu geben.
    Ich griff nur ungern in diese Komposition ein, doch wie hätte ich meiner Neugierde widerstehen sollen, die naturgemäß wissen wollte, welche Nachricht man den Plänen angeheftet hatte? Da ich unter den wahren Freunden ein Meister im Mikado war, verfügte ich über die nötige sichere Hand, um das Papier abzustreifen, auf dem in kindlicher, doch keineswegs unordentlicher Schrift stand:
Wir bauen die Ente
.
    Warum sich mir bei diesen Worten die Haare im Nacken sträubten, hätte ich nicht sagen können. Fürchtete ich mich vor meiner Frau? Dem Zimmermädchen? Eilends nahm ich das Wörterbuch zur Hand, und man möge sich meine Gefühle ausmalen (in dieser Stadt, in der alle alles über mich wussten und die unschuldigste Tat Feindseligkeiten so sehr wie Misstrauen weckte), man möge sich mein rasendes Herzklopfen vorstellen, als ich erfuhr, dass das Wort
Ente
dem englischen
duck
entsprach.
    Das Wörterbuch war jedoch nur eine kleine Ausgabe, also stürzte ich davon, um einen lebenden Dolmetscher zu suchen, bei dem es sich in diesem Falle

Weitere Kostenlose Bücher