Doppeltes Spiel (German Edition)
1. Kapitel
»S üße, wie lieb von dir, dass du gleich gekommen bist.« Margot küsste Lysette links, rechts, links auf die Wangen. »Setz dich irgendwo hin, willst du etwas trinken? Jojo kümmert sich um dich. Ich komme gleich zu dir.«
Lysette sah ihrer davonrauschenden Schwester hinterher. Sie war nicht zu Wort gekommen, aber das kannte sie an Margot - nein, hier war sie ja »Margo». Margo, die Erfolgreiche. Margo, die auf all den großen Fashionevents der Welt zu finden war, früher als Model, jetzt als Fotografin. Margo, ihre Zwillingsschwester, nur zehn Minuten älter, aber selbst das ließ sie die Jüngere immer wieder spüren.
Lysette seufzte und dankte, als Margos Assistent, ein gut aussehender, dunkelgelockter junger Mann mit samtbraunen Augen, ihr einen Kaffee anbot. Sie ignorierte sein Grübchenlächeln und schüttelte nur den Kopf auf seine Frage: »Zucker? Milch?«
Der Kaffee war heiß und stark. Lysette trank ihn in vorsichtigen Schlucken und sehnte sich nach einer Zigarette. Aber hier im Atelier war striktes Rauchverbot, seit Margo es aufgegeben hatte.
Sie nahm den letzten Keks von einem krümelbedeckten Teller, der sich zwischen einem Sammelsurium von Bechern, Wasserflaschen und Notizzetteln versteckte, und aß ihn. Im Intercity-Bordrestaurant hatte sie ein Sandwich gegessen, aber das hatte wenig Lust auf mehr gemacht, und jetzt hatte sie Hunger. Die Fahrt von Hamburg nach Düsseldorf war nicht so lang, dass sie nicht auf ein richtiges Essen in einem richtigen Restaurant hätte warten können. Aber jetzt saß sie hier in Benrath in Margos riesigem Atelier und wartete darauf, dass ihre Schwester endlich dieses spindeldürre Mädchen mit der schrecklichen Bienenkorbfrisur fertig fotografierte und zu ihr kam.
»Was ist denn so geheim an dem Job, den du für mich hast, dass du es mir am Telefon nicht verraten konntest?«, fragte Lysette, als ihre Schwester sich endlich ihr gegenüber in das zerknautschte Designer-Ledersofa fallen ließ.
»Puh«, machte Margo und streifte die Pumps von den Füßen. »Jojo, Schätzchen, gib mir was Kaltes zu trinken, ich verdurste.«
Der Assistent ging zu dem riesigen roten Kühlschrank, der an der Längswand stand wie ein Altar, und kam mit einem Glas zurück, in dem Eiswürfel klimperten. Margo nahm das beschlagene Glas mit einem zufriedenen Stöhnen in Empfang, zog ihre Füße auf das Sofa und schickte Jojo mit einem knappen Nicken weg.
»Lass dich anschauen«, sagte sie und musterte Lysette streng. »Du trägst ja immer noch diese schrecklichen, bunten Oköklamotten. Und was hast du mit deinen Haaren gemacht? Süße, wir beide gehen morgen früh erst einmal shoppen und zum Friseur.«
Lysette lachte. Es gab Zeiten in ihrem gemeinsamen Leben, da hätte sie sich schwarz, grün und blau geärgert darüber, wie Margo über sie bestimmte. Aber sie waren kein Teenager mehr, und deshalb entgegnete sie nur: »Und deshalb hast du mich aus Hamburg herkommen lassen?«
Margo erwiderte ihr Lächeln. Lysette sah in das Gesicht ihrer Schwester wie in einen Spiegel, der eine etwas andere Realität zeigte. Wie schön Margo doch war. Sie hatte ihre langen, dunkelblonden Haare streng zurückgekämmt und in eine Banane geflochten, als wollte sie gleich zum Tanztraining gehen. Die großen, etwas schrägstehenden graugrünen Augen mit den langen Wimpern hatten die beiden Schwestern von ihrer französischen Mutter geerbt, wie auch den vollen Mund. Aber die vereinzelten Sommersprossen, die auf einer schmalen, geraden Nase und hohen Wangenknochen saßen wie kleine Schönheitspflästerchen, die waren ein Erbstück ihres norddeutschen Vaters, und von ihm hatten sie beide auch ihre große, schlanke Gestalt mit den langen Beinen geerbt.
Nur, dass das alles an Margo völlig anders zur Geltung kam, dachte Lysette ohne Neid. Margo hatte schon als Kind wie ein Model gewirkt - superschlank, mit trägen, eleganten Bewegungen. Lysette war die Sportliche gewesen, die nicht modelschlank, sondern immer nur schlaksig und gegen Margo ein wenig ungelenk ausgesehen hatte. Deshalb hatte Maman sie auch zum Ballett geschickt. Wie gerne wäre sie Tänzerin geworden, aber ihre Körpergröße hatte dem Traum schließlich ein Ende gemacht.
»Wo bist du, Träumerle?«, holte die Stimme ihrer Schwester sie aus ihren Erinnerungen.
»Ich habe an Maman gedacht«, erwiderte Lysette.
»Ich denke in letzter Zeit auch oft an sie«, erwiderte Margo und beugte sich vor, um Lysettes Hand zu drücken. »Sie hätte
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