Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
Vom Netzwerk:
mir in die Augen. Sie waren dunkelbraun, fast konnte man sie schwarz nennen. Ich hatte keine Angst vor dem Mann, auch wenn er fraglos ein ebenso seltsames wie wildes Biest war. »Das hier ist ein Bild von Karlsruhe«, sagte er.
    Rückseite. Deutsche Spielkarte, ca. 1820
    »Übersetzt heißt Karlsruhe:
Karl’s rest
, Karls Ruhe oder Ruheplatz. Das wissen Sie natürlich. Nur können Sie den Karl nicht sehen, der Karlsruhe erträumte, Karl III . Wilhelm, Markgraf von Baden-Durlach. Er schlief und hatte einen Traum, und was er träumte, sehen Sie auf der Rückseite dieser Spielkarte. Was also sehen Sie?«
    »Offenkundig eine Art Kreis.«
    »Offenkundig, Mr Brandling. Ein Rad, genaugenommen.«
    Wieder fragte ich mich, woher zum Teufel kennt er meinen Namen? Aus dem wirren Durcheinander seines Lederbuches fischte er ein abgenutztes Blatt, eine Art Katalog mit Uhrenfedern und Zahnrädern.
    »Sie sind kein Uhrmacher«, sagte ich – die Hände auf dem Tisch schienen fast zu groß, um sich eigenhändig die Schuhriemen zu binden.
    »Warum um alles in der Welt haben Sie mit diesem Idioten Hartmann geredet? Sie kommen in die Heimat des Rades und reden mit diesem kleinbürgerlichen Langweiler, diesem belanglosen Ladenbesitzer? Wissen Sie denn überhaupt, wo Sie sind?«
    Ich vermutete, dass sie einander alle in diesem Ton anredeten.
    »Sie wollen eine Kuckucksuhr«, schnaubte er beinahe verächtlich.
    »Nein«, erwiderte ich, doch bestand er darauf, dass ich mir einen Kupferstich mit Uhrenrädern ansah, wobei er mich unverwandt mit jener sinnlosen Erregung musterte, wie man sie in den Augen von Menschen erkennen kann, die ihren Verstand verloren haben. Mir wurde klar, dass er eine Theorie besaß. Wer aus Karlsruhe stammte, der hatte Speichen und Eisenbänder.
    »Haben Sie je eine fahrende Maschine gesehen?«
    »Eine Maschine, die fährt?« (Meine Güte, dachte ich, das wäre doch mal was.)
    »Trinken Sie, um Himmels willen. Nein, natürlich nicht. Wenn eine solche Maschine jedoch erfunden werden würde, wo wäre dafür dann wohl der angemessenste Ort?«
    »In Karlsruhe, wollen Sie mir sagen.«
    »Hier«, rief er, fischte noch etwas aus seiner Sammlung und hielt es mir mit riesiger Hand hin – eine Karte, wie sie manche Hersteller gelegentlich ihren Pfeifentabakdosen beilegen. »Sehen Sie genau hin«, befahl er. »Sie geben zu viel Geld für Ihren Schneider und nicht genügend für Bücher aus.«
    Die Karte zeigte einen kolorierten Kupferstich von einem Individuum mit einem zweirädrigen Gestell.
    »Das ist Herr Drais aus Karlsruhe.« Er tippte auf den Kopf mit einem Fingernagel, der so schartig und dreckig wie der eines Gärtners war.
    »Und warum zeigen Sie mir das?«, wollte ich wissen.
    »Es ist nach ihm benannt. Eine Draisine.«
    »Und warum zeigen Sie mir diese verdammte Draisine?«
    »Damit Sie nicht an Ente sterben«, rief er, warf den Kopf in den Nacken und brüllte vor Lachen. Ich schob ihm die Papiere wieder zu, doch hatte er mir noch eines vorzulegen.
    Seidenpapier, organische Tinten und Färbmittel. Herkunft unbekannt.
    »Und was soll das sein?«, fragte ich.
    »Woher soll ich das wissen?«
    »Aber warum zeigen Sie es mir dann?«
    »Im Vertrauen.«
    »Im Vertrauen auf was?«
    »Da ich Ihre Pläne habe«, sagte er, »ist es nur fair, wenn Sie auch meine haben.«
    »Sie haben meine Pläne nicht«, erwiderte ich. »Und nennen Sie mich nicht Brandling.«
    Statt einer Antwort kreuzte er die Arme vor der breiten Brust und entblößte unterm großen Schnauzbart eine Reihe weißer, sauberer Zähne.
    »Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Ich habe eine Verabredung.«
    »Dann müssen Sie wohl gehen.«
    Er unternahm keinen Versuch, sich von mir zu verabschieden, sondern blieb stoisch hocken, die große Nase tief im hochprozentigen Getränk. Nachdem ich einige Augenblicke später meinen Weg über den dunklen, gewundenen Flur auf mein Zimmer gefunden hatte, musste ich feststellen, dass die Pläne verschwunden waren.
    Ich sah meinen armen lieben Jungen vor mir, die dunklen Augen, den verbliebenen Kummer, und wusste, welch Verbrechen es gewesen war, ihn zu verlassen. Ich stürzte die Treppe hinunter und hätte nicht gezögert, mir das Buttermesser zu schnappen und es dem Schuft in die starrenden Augen zu stoßen, doch lässt sich gewiss erahnen, was geschehen war. Wie gewöhnlich war ich der Letzte, der verstand. Ja, der Salon lag jetzt verlassen, nichts war mehr da außer zwei Cognacgläsern und – unter dem Tisch – eine einzelne

Weitere Kostenlose Bücher