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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
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– natürlich, leider – um Frau Beck handelte.
    Sie blickte von ihrem Hauptbuch auf, lächelte, und zum ersten Mal bemerkte ich, dass sie zwar im Ganzen den Eindruck eines trocknen, ausgewrungenen Geschirrtuchs machte, die kleinen braunen Augen aber sanft und ziemlich wachsam dreinblickten. Sie ist Witwe, dachte ich mir.
    »Was bedeutet
Ente

    »Nun, Sir, natürlich
duck

    »Und was steht hier über die Ente geschrieben, Frau Beck?«
    Sie legte den Zettel auf den Tisch, tunkte ihre Feder ein und korrigierte, unaufhörlich lächelnd, die kindliche Schrift.
    »Herr Brandling«, sagte sie, »wir werden Ihnen natürlich Ihre Ente machen. In zwei Stunden wird sie fertig sein.« Das Missverständnis war nur zu deutlich, doch wollte ich mich mit ihr nicht anlegen. Statt also ihre Meinung von mir noch weiter zu verschlechtern, erklärte ich mich einverstanden, für eine Ente zu zahlen, die ich nicht essen würde.
    »Und jetzt müssen Sie spazieren gehen, Herr Brandling. Sie müssen gesund bleiben. Sie sind in Deutschland, also müssen Sie sich bewegen. In zwei Stunden gibt es Mittagessen.«
    Ich hätte sie weiter befragen können, doch suchte sich der Majordomus – eine unangenehme, hinkende Gestalt – just diesen Augenblick aus, um einen Streit mit der alten Frau vom Zaun zu brechen, die vorm Hotel die Treppe wischte. »Gehen Sie, Herr Brandling«, rief Frau Beck und eilte zu den Streithähnen. »Es wird Ihnen guttun.«
    Ziellos begann ich meinen Spaziergang und wanderte durch die kleinen Straßen, wie es vor mir gewiss schon viele Besucher getan hatten, nur interessierte mich eigentlich nichts bis auf jene kurze Notiz, und ich fürchtete, die war provokant gemeint.
    Am Straßenrand fanden sich ebenso viele Uhrmacherläden wie tags zuvor, bloß war mir heute nicht danach, weshalb ich Straßen wählte, die aufs Land hinausführten oder zur Kirche, die zu betreten man mir gewiss nicht vorhalten würde. Natürlich aber war sie katholisch, weshalb ich es für angeraten hielt, sie bald wieder zu verlassen.
    Die Gassen unterschieden sich nicht sonderlich von jenen einer Provinzstadt in England, in der die Ladenbesitzer ihre Ware in Kreide auf den Türpfosten anpreisen. Es war bloßer Zufall, dass ich auf ein Papiergeschäft stieß, in dem es mir gelang, einen Umschlag sowie eine Briefmarke zu erstehen, deren Wert, wenn ich es recht verstand, ausreichen dürfte, einen Brief an meinen Jungen zu befördern. In einem leeren Biergarten fand ich einen freien Platz unter einem Kastanienbaum, riss ein Blatt aus meinem Notizheft und beschrieb Percy das winzige Karussell. Da mein Gedächtnis ziemlich gut ist, gelang es mir, beide Seiten und dann noch ein zweites Blatt mit einer präzisen Beschreibung sämtlicher kleiner Figuren und ihrer Bewegungen zu füllen. Ich ermutigte Percy, darin einen vielversprechenden Anfang zu sehen. Ich hoffe, schrieb ich, im nächsten Brief weitere gute Neuigkeiten vermelden zu können. Das war gelogen, aber blieb mir eine andere Wahl? Es kam entscheidend darauf an, selbst während meiner Abwesenheit die magnetische Agitation so weit wie möglich am Leben zu erhalten.
    Ohne jeden Appetit kehrte ich zum Gasthof zurück, wo mich Frau Beck gleich in einen an den Speisesaal grenzenden Salon führte. Er war mit dunklem Holz verkleidet und mit einer Reihe verstaubter Tapisserien behangen, die, wie man mir sagte, eine ›rumänische Jagd‹ zeigten. Die Fenster waren recht klein und das Licht einer Beerdigung angemessen, weshalb hier drinnen mitten an diesem sonnigen Frühlingstag Kerzen brannten. Es dauerte eine Weile, ehe ich die massige Gestalt eines in der Ecke sitzenden Mannes ausmachte.
    Mit tiefer Stimme sprach er mich an: »Guten Tag.«
    Er sah wie ein Soldat aus, ein Hauptmann, der sich in Zivil unwohl fühlte.
    Ein Kellner kam, den Kopf derart gesenkt, dass seine Ohren, wäre er ein Hund, flach angelegen hätten. Mittlerweile geriet ich in Panik wegen der Ente, die ich abzubestellen versuchte, indem ich nach einem Omelette verlangte.
    »Natürlich«, sagte er, »
immédiatement

    »Wie gefällt Ihnen Karlsruhe, Brandling?«
    Brandling? Mir stellte sich das Haar im Nacken auf. Er war ein großer Mann mit einem Hals so breit wie der schimmernde, vollkommen kahl rasierte Schädel. Die Brauen waren schwarz, dicht und offenkundig vom selben verrückten Friseur getrimmt wie sein Schnauzer.
    Hatte er die Notiz geschrieben, fragte ich mich. Was für ein lächerlicher Gedanke, antwortete ich mir

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