Chemie der Tränen
– das hätte ihr gefallen –, möglicherweise eine Woche oder auch zwei, bis mir die eingescannten Seiten zur Verfügung gestellt worden wären. Unterdessen hätte jedes Blatt erst Miss Hellers aggressive Schutzmaßnahmen und dann die Behandlung der Konservatoren erdulden müssen – eine heftige Attacke mit weißem Licht (mit dreitausendzweihundert Kelvin, um genau zu sein), was man auch als ›die schlimmste Beleidigung‹ kennt.
Sein Leichnam lag jetzt bestimmt im Leichenwagen.
Die Prozession war auf dem Weg, bewegte sich nach Norden auf der Harrow Road. Ich setzte mich. Mir fiel auf, dass die Notizhefte aus dem ›Werk‹ eines gewissen Wm. Fröhlich aus der Stadt Karlsruhe in Deutschland stammten.
Und als mein Liebling ins Weggewirr von Kensal Rise eintauchte, hielt ich elf Notizhefte in bloßen Händen. Alle, die ich aufschlug, waren in auffälliger Handschrift eng beschrieben. Jede Zeile begann und endete am äußeren Rand, und die Schrift wirkte so regelmäßig wie ein Sägezahndach. Keine Haaresbreite Platz blieb an den Rändern.
Natürlich war ich mit den Nerven am Ende. All meine Gefühle wirbelten durcheinander, doch war es eindeutig diese augenfällige Schrift, die mein aufkeimendes Interesse weckte, kam ich doch zu dem Schluss, dass der Schreiber in den Wahn getrieben worden war. Noch wusste ich nicht, dass er Henry Brandling hieß, nur zweifelte ich keinen Moment daran, dass es sich um einen Mann handelte, und er tat mir bereits leid, noch ehe ich auch nur ein einziges Wort von ihm gelesen hatte.
Henry
1854 , der zwanzigste Juni
Welche Umstände auch immer uns veranlassen mögen, ins Ausland zu reisen, werden wir es doch stets angenehm finden, uns von der Morgensonne wecken zu lassen und – etwa in einem deutschen Gasthof – auf dem Stuhl am Bett Portmanteau und Reisenecessaire zu sehen, ein angenehmes Gefühl, das noch zunimmt, erinnert man sich daran, die Inspektion des Zollbeamten überstanden zu haben, dem sich wohl der Gedanke in seinen großen deutschen Quadratschädel festgesetzt hatte, dass man Pläne schmuggle – doch für was genau? Etwa für ein höchst merkwürdiges Kriegsgerät?
Gesegneter Morgen.
Ich war nach Deutschland gereist mit der glaubhaften Versicherung meiner Familie, dass dort bis auf die Bauern alle Welt Englisch spräche. Als ich aber nun den Zollbeamten erdulden musste, begriff ich, dass in Deutschland offenbar viele Bauern leben, weshalb ich auf dem Bahnhof ein Lehrbuch der deutschen Sprache erstand.
Wie ich nun am nächsten Morgen in meiner stillen, frisch geweißten Kammer auf und ab ging, gab ich mir größte Mühe, Deutsch zu lernen, was zwar nicht gerade mein Metier war, doch egal. Ich war ein Brandling, und selbst wenn ich mich wie ein Zirkusclown mit stummem Gebärdenspiel verständlich machen musste, blieb ich fest entschlossen, nicht ohne meine Trophäe heimzukehren.
Mein Sohn hatte sehr gelitten während seiner Hydrotherapie, und es war schrecklich gewesen, den kleinen Kerl jammern zu hören und zu wissen, dass sein fiebernder Leib in kalte, feuchte Laken geschlagen wurde und ein weiterer Behandlungstag begonnen hatte.
Seit der ersten bronchialen Regung zwei Jahre zuvor rechnete meine Frau mit dem Schlimmsten. Der Tod unserer Erstgeborenen hatte ihr enorm viel abverlangt, weshalb ihr nun in allem behutsamen Umgang mit Percy überdeutlich anzumerken war, dass sie den kleinen Kerl nicht zu lieben wagte. Und ich? Ich gab mich wie immer, ich konnte gar nicht anders. Ich beharrte auf meinem Optimismus, der es leider nur mit sich brachte, dass die gute Frau, die mich von ganzem Herzen geliebt hatte, erst verärgert und dann wütend reagierte. Schließlich richtete sie sich ihr eigenes separates Schlafzimmer auf der tristen Nordseite des Hauses ein.
Ich gab mir größte Mühe, sie zufriedenzustellen. Ich war es auch, der Mr Masini beauftragte, ihr Porträt zu malen und ihn ermutigte, seinen Assistenten und jeden unterhaltsamen Freund mitzubringen, nach dem ihm der Sinn stand. Darin lag ich nicht falsch, und die Bibliothek wurde bald zum Salon; selbst die Arbeit am Porträt machte trotz des vielen Geschwätzes ordentliche Fortschritte. Hermione war eine ansehnliche Frau.
Ich aber konnte meinen Sohn nicht dem Pessimismus überlassen, hatte die hydrotherapeutische Zisterne konstruiert, die irische Magd eingestellt, mein Büro im Werk geräumt und schlief nun auf einem Feldbett im Kinderzimmer, in dem wir, den Empfehlungen von Dr. Kneipp folgend, die
Weitere Kostenlose Bücher