Die Auserwählte
Kapitel
Eins
Ich saß in meinem Zimmer und las ein Buch.
Ich blätterte eine Seite um. Der geschwungene Schatten einer kerzenbeleuchteten weißen Oberfläche fiel auf eine zweite, und ein leises, kratzendes Rascheln brach die Stille. Plötzlich überkam mich ein Schwindelgefühl, und ich fühlte deutlich die hauchdünne Trockenheit des Papiers, das sich rauh an der Haut meiner Finger rieb und scheinbar als Leiter für eine übermächtige, verwirrende Energie fungierte. Einen Moment lang saß ich benommen da, während mich die ungebetene Erinnerung an meine erste Heilung durchflutete, getaucht in das Licht einer lang zurückliegenden Jahreszeit.
Es war ein heißer Sommertag; einer jener drückenden, stillen Nachmittage, wenn der entfernte Dunstschleier über den Hügeln und Wiesen noch vor dem Abend Donner bringen kann und die Steinmauern und Felsbrocken die aufgeheizte Luft in lieblich duftenden Schwällen abgeben, wenn man dicht an ihnen vorbeigeht. Mein Bruder Allan und ich hatten verwegen weit von unserem Heim auf der Farm und verwegen nah an der Hauptstraße gespielt. Wir hatten in den Feldern Hasen gescheucht und in den Hecken nach Vogelnestern gesucht, beides ohne Erfolg. Ich war fünf, er zwei Jahre älter.
Auf einem gerade abgemähten Feld hinter der Hecke auf der anderen Seite der Straße, wo die Autos und Laster im Sonnenschein vorbeibrausten, fanden wir einen Fuchs.
Das Tier war klein, und an seiner Schnauze und seinem Maul klebte getrocknetes Blut. Allan stupste den Fuchs mit einem Stock an und erklärte ihn für tot, aber ich starrte und starrte und starrte nur und wußte, daß er immer noch leben könnte, und so ging ich hin und beugte mich hinab und hob ihn auf, nahm seinen steifen Leib in meine Arme und vergrub meine Nase in seinem Fell.
Allan tat lautstark seinen Ekel kund; jedermann wußte doch, daß Füchse Flöhe hatten.
Aber ich spürte das pulsierende Strömen des Lebens, in mir und in dem Tier. Eine seltsame Spannung baute sich in mir auf, wie das segensreiche Gegenteil von angestauter Wut; sie keimte auf, sproß und erblühte, und dann floß sie aus mir heraus wie ein leuchtender Strahl der Lebenskraft und des Seins.
Ich spürte, wie das Tier in meinen Händen erwachte und sich regte.
Gleich darauf zuckte es, und ich legte es wieder auf den Boden; es erhob sich wackelig auf die Beine und schüttelte sich einmal, dann sah es sich zögernd um. Es knurrte Allan an, dann sprang es davon und verschwand in dem Graben vor der Hecke.
Allan starrte mich an, in seinen weit aufgerissenen Augen ein Ausdruck des Entsetzens, wie es schien, und obgleich er ein Junge und zwei Jahre älter als ich war, sah er so aus, als würde er gleich heulen. Die Muskeln an seinen Kiefergelenken, unter seinen Ohren, bebten und zuckten. Mein Bruder ließ seinen Stock fallen, brüllte und rannte durch die abgeernteten Stoppeln zurück zur Farm.
Ich blieb allein zurück, erfüllt von einem Gefühl unbeschreiblicher Zufriedenheit.
Später – Jahre später, mit dem Vorzug einer erwachseneren Perspektive in Hinblick auf jenen unvergeßlichen Kindheitsmoment – vermeine ich mich noch genau daran zu erinnern, was ich empfunden habe, als ich den Fuchs vom Boden aufhob, und dann frage ich mich, ob jene Gabe, die ich zu besitzen schien, wohl auch über Entfernungen tätig werden könnte.
… Das kurzzeitige Schwindelgefühl verging, die umgeblätterte Seite legte sich auf die zuvor gelesenen. Die Erinnerung – die Gabe, die wir alle besitzen und die zweifelsohne über Entfernungen tätig wird – entließ mich wieder in die Gegenwart, und ich stand (obgleich ich es damals noch nicht wußte) am Beginn meiner eigenen Geschichte.
*
Ich werde mich vorstellen: Mein Name ist Isis. Gewöhnlich nennt man mich Is. Ich bin eine Luskentyrianerin.
*
Ich werde meine Geschichte mit dem Tag beginnen, an dem Salvador – mein Großvater und unser Gründer und Oberhaupt - den Brief erhielt, der unmittelbar zu den Ereignissen führte, die im folgenden beschrieben werden; es war der erste Tag des Monats Mai 1995, und alle Mitglieder unserer Gemeinschaft waren emsig mit den Vorbereitungen für das Fest der Liebe befaßt, welches am Ende des Monats stattfinden sollte. Das alle vier Jahre stattfindende Fest und besonders die Bedeutung, die es für mich selbst haben würde, beschäftigten mich sehr, und ich sah meinem Abschied von der Gemeinde für meinen wöchentlichen Gang nach Dunblane, zu seiner Kathedrale und der
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