Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
Vom Netzwerk:
dennoch mit ein wenig Salz und Butter die köstlichste Speise ergeben, die ich je gegessen habe. So wütend lädt sie auf – platsch! –, dass sich ihr die Nasenlöcher vor Erregung zusammenziehen. Am Unterarm prangt eine hellrote Schürfwunde wie von einem Messer.
    »Carl muss fertig werden«, sagt Sumper. Und ich frage mich, woher soll das Geld kommen? Blut steigt dem Jungen ins Gesicht. Mit seinen strahlenden weiten Augen und dem weizenblonden Haar könnte er ein Chorknabe in einer unserer Kirchen sein.
    Der Appetit des wohlbeleibten Mannes ist nie gestillt, der Durst lässt niemals nach. Er trinkt, er isst, er macht die Gesetze. »Sobald der Junge hier fertig ist, kehrt er in die Stadt des Rads zurück und nimmt die Arbeit auf, zu der er geboren wurde.«
    Wie hatte mir nur entgehen können, wie seltsam er war, damals, am ersten Tag im Gasthof – die Karte von Karlsruhe, der Baron mit der Draisine?
    Frau Helga behauptet nun, er habe den Verstand verloren und sie hasse ihn, später dann aber, nachts, höre ich, wie sie es miteinander treiben, wie sie wilden Tieren gleich aneinander zerren, wie sie keuchen und schnaufen, als wären sie Komplizen bei einem Verbrechen. Ich wage es kaum zu gestehen, doch würde ich für weniger schon meine Seele verkaufen.
    Am Morgen werde ich wachgerüttelt. Sumper hat sich rasiert, ist glatt wie ein Fels und blitzblank. Die Augen funkeln wie Kiesel im Bach.
    Ehe er mit dem Tagewerk beginnt, wünscht er mir nur zu verstehen zu geben, dass all dies exakt so geschieht, wie Albert Cruickshank es vorhergesagt hat.
    Er legt eine Hand an meine Wange. Wer wiche nicht vor ihm zurück? Und er wiederholt, dass Cruickshank meine Ankunft in Deutschland vorhergesagt hat, ebenso meine besondere Rolle in Sumpers Leben. Meine Augen sind schlafverklebt, seine ganz klar, ohne den geringsten Schatten eines Zweifels.
    Dies ist eine weitere Lüge. Ich habe alles genauso festgehalten, wie er es erzählte – seit jener verregneten Nacht, in der er zum Buckingham Palast aufbrach, hat er Cruickshank nicht mehr gesehen. Damals war von mir noch mit keinem Wort die Rede. Wie hätte es anders sein können? Dann wurde er deportiert und kehrte schließlich nach Furtwangen zurück, von wo aus er den Folianten mit den Namen der Ertrunkenen an seinen ehemaligen Herrn zurückschickte. Als Antwort erhielt er den ketzerischen Automaten mit einer ›liebenswerten Notiz‹, die besagte, dass Sumper nun das Lachen wohl nötiger habe als Cruickshank.
    Hätte es eine prophetische Vorhersage gegeben, hätte ich sie festgehalten, so wie ich alle übrigen Symptome festhielt.
    Doch Sumper war von Anfang an schlüpfrig wie ein Rheinfisch. »Ich kann Ihnen nicht im Einzelnen erzählen, was geschah.« Er öffnet die Fensterläden und das Fenster, um den heulenden Wind einzulassen. »Und ich berichte Ihnen auch nicht, was Cruickshank SCHRIEB , sondern was er SAGTE . Seien Sie doch bitte aufmerksamer, wenn ich Ihnen etwas erzähle. Als ich mich zum Buckingham Palast aufmachte, sah das Genie bereits mein Geschick vorher. Ich glaubte, die Maschine retten zu können, aber er kannte die Wahrheit. In dem Augenblick, in dem ich seine Hand schüttelte, sagte er: Verzweifelt nicht, es wird ein anderer Engländer kommen. Erst später fielen mir seine Worte wieder ein. Ich mochte ihn verlieren, doch würde ein anderer Engländer kommen.«
    Ich richte mich auf und bleibe mit dem Rücken zum Fenster stehen, um mich vor dem Sturm da draußen zu schützen. Sumper schiebt sich auf mich zu, die Augen zu nah, zu aufdringlich.
    Er sagt: »Erinnern Sie sich nicht daran, wie ich in Frau Becks Gasthof auf Sie gewartet habe? Sie wussten es noch nicht, doch besaß ich da bereits Ihre närrischen Pläne.«
    »Herr Sumper«, sage ich, »das ergibt keinen Sinn. Mr Cruickshank hat mich nie gekannt, noch konnte er meine Umstände kennen, den Charakter meiner Frau oder etwas über die Krankheit meines Sohnes wissen, über die Künstler, die sich in unser Haus drängten. Um es mit Ihren Worten zu sagen: Mr Cruickshank besaß eine unzureichende Datenmenge.«
    »Henry, Sie haben nicht die geringste Ahnung, was dieser große Geist gedacht hat. Wie könnten Sie?«
    Ich bin fünf Zentimeter größer, doch wenn ich in diese pechschwarzen Augen blicke, bin ich nur noch eine weinerliche Memme. Ich hoffe bloß, dass er mich bald entlässt.
    Es ist jetzt klar, dass Frau Helga den Dorfbewohnern Sumpers lachenden Jesus gezeigt hat. Und dass sie ihn verkaufte, ist meine

Weitere Kostenlose Bücher