Chemie der Tränen
dafür sorgte, dass Manuskripte eingescannt wurden. Ich nahm an, dass sie sich Crofty gegenüber ungewöhnlich nett benahm, denn als er den leeren viktorianischen Salon hinter ihrem hohen Bibliothekarstisch erwähnte, nannte er ihn einen ›recht angenehmen Raum‹. Warum auch nicht? Für ihn ist er das bestimmt gewesen. Sogar im Winter, sogar in der Stille, blieb ihm ihre Feindseligkeit erspart, die wir Übrigen selbst dann noch spüren konnten, wenn wir keinen Blickkontakt mit ihrer Quelle hatten.
Annie war durchweg unfassbar unhöflich. Nur im Swinburne konnte sie ihre Stelle behalten.
Wir versuchten alle, uns bei ihr einzuschmeicheln, wofür sie uns natürlich verachtete. Und obwohl ich das wusste, lächelte ich sie an, als ich kam, um mit ihr über den Brandling-Katalog zu reden. Ich sagte, mir gefalle ihre Frisur, eine viel zu dick aufgetragene Lüge. Und ich fragte, ob sie mir, bitte, ein Formular für die Entleihung eines der Manuskripte geben könne, die Mr Croft ihr gerade überlassen hatte.
Wie üblich ließ sie mich lang auf eine Antwort warten. Schließlich sagte sie, sie würde sie mir ›auf der Stelle‹ geben, sobald die Schriften katalogisiert worden waren.
Ich fragte sie, wie lang das dauern mochte.
»Ach, nicht lang – ein, zwei Tage.«
Als sie aufblickte, wusste ich, dass sie log. Ich wartete, bis sie sich mehr oder weniger genötigt fühlte, mich anzuschauen.
»Könnte ich sie vielleicht hier drinnen lesen? Im Lesesaal?«, fragte ich. Es hätte keine Frage sein sollen. Ich war Senior-Konservatorin.
»Ich fürchte, sie werden zur Katalogisierung benötigt.«
»Ich glaube nicht, dass es Mr Crofts Absicht war, mir den Zugang zu diesem Material vorzuenthalten«, sagte ich, was sie irgendwie nötigte, erneut auf ihre Computertastatur einzuhacken. Allerdings schien die Arbeit nicht ihre ganze Konzentration zu erfordern, da sie zwischen den Anschlägen mit mir reden konnte.
»Sie wissen so gut wie ich, Miss Gehrig, dass es Mr Croft nicht recht wäre, wenn ich gegen die Vorschriften verstieße.«
»Könnten Sie ihn nicht anrufen?«
Da schob sie die Tastatur beiseite. Der Kopf kam hoch. Die winzige Drahtbrille wurde abgenommen.
»Ich kenne die Vorschriften des Swinburne, Miss Gehrig, auch ohne mit Mr Croft zu reden, aber wie auch immer, sobald wir die Manuskripte katalogisiert haben, werden sie eingescannt, und dann können Sie sie sich jederzeit auf Ihrem Computer ansehen.«
»Also ist es definitiv nicht möglich, dass ich sie jetzt lese?«
»Miss Gehrig, sehe ich etwa so aus, als hätte ich sonst nichts zu tun?«
»Selbst wenn dadurch ein für das Museum finanziell äußerst wichtiges Projekt verzögert wird?«
»Das ist korrekt, ja.«
»Danke, Miss Heller.«
»Nichts zu danken, Miss Gehrig. Ich glaube nicht, dass es länger als eine Woche dauern wird.«
So leise ich konnte, ging ich die Treppe wieder hinab und fuhr im stinkigen Bus zurück nach Olympia. Ich war ziemlich mieser Laune, sauer auf mich selbst wegen meiner Inkompetenz, frustriert, weil ich Henry verloren hatte, und wütend auf Crofty, weil er mich nicht unterstützte. Als ich Amanda sah, die sich in meiner Werkstatt häuslich eingerichtet zu haben schien, war mir, als hätte ich allen Einfluss verloren, den ich je besessen hatte.
»Guten Morgen, Amanda«, sagte ich.
»Es tut mir so leid, Miss Gehrig«, aber ich konnte ihr nicht trauen, konnte ihr nicht in die Augen schauen.
»Vorbei und vergessen«, erwiderte ich. »Der Schwan ist wichtiger als wir beide.«
Sie war bei Angus gewesen. Er hatte sie angezogen. Sie trug ein zerknittertes weißes Hemd, dessen einziger Knopf mit hellrotem Garn angenäht worden war, und sah zum Anbeißen aus. Und sie trug das ungebügelte Baumwollhemd, wie es nur schöne Frauen tragen können, wobei sie ein neues sexuelles Selbstvertrauen verströmte, angesichts dessen ich mich ausgetrocknet und verschrumpelt fühlte.
Mittlerweile hatten wir den Mechanismus auf einer stählernen Arbeitsplatte zusammengebaut; die jetzt sauberen Glasstangen lagen auf den hellen, neuen Spiegelplatten, und die Spannfutter waren mit modernem, entfernbarem Kleber befestigt. Sobald wir das Uhrwerk aufzogen, würden die Stangen langsam rotieren.
Die Kette war befestigt, und der kleine Fisch konnte noch heute Morgen angebracht werden, ein Vorgang, der eigentlich so simpel war, als wollte man sich einen Ohrring anstecken.
Wir würden noch etwa einen Monat bis zur endgültigen Fertigstellung brauchen, standen
Weitere Kostenlose Bücher