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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
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aber kurz vor einer Generalprobe für die Geldgeber. Sobald der Hals beringt und der Schnabel angebracht worden war, konnte ein Probelauf stattfinden und Crofty den Mäzenen das Wunderwerk zeigen. Natürlich wusste er genau, womit er es zu tun hatte, da ihm schon vor der Instandsetzung geschwant hatte, was für eine hypnotische, gespenstische Kreatur der Vogel sein würde. Ich bin mir sicher, dass die Karten von ihm weit besser verteilt worden waren, als ich es je auch nur begreifen konnte.
    Würde der Schwan wirklich solche Scharen von Besuchern anziehen, wie sie das Ministerium zufriedenstellten? Die Protokolle der Verfahrensanhörung deuteten in diese Richtung, nur ließe sich der Sachverhalt auch weit drastischer formulieren: Mit dem Schwan gaben die Mandarine vom Lowndes Square gegenüber der Tory-Regierung klein bei. Sie verstanden ihre Verpflichtung, ›populärer‹ werden zu müssen.
    Wie auch immer, meine Angreiferin und ich schufteten Tag für Tag. Und so lange sich unsere Unterhaltung auf die zu erledigende Arbeit beschränkte, fürchtete ich auch keine körperlichen Übergriffe.
    Trotzdem gelang es mir nicht, die ungestüme, ignorante Beschädigung von Carls blauem Würfel zu vergessen, weshalb ich auch weiterhin im Rose and Crown wohnte, was eine nicht unerhebliche Belastung sowohl meiner MasterCard wie meiner Garderobe bedeutete.
    Eines Morgens kam ich zur Arbeit und sah, dass Amanda bereits an ihrem Laptop saß. Ich hätte mir nichts dabei gedacht, hätte sie ihn nicht so rasch zugeklappt. Nun wollte es aber der Zufall, dass die Security einige Minuten später anrief, um mitzuteilen, dass ein Paket angekommen sei – das lange Dyneema-Synthetikband, das ich als Ersatz fürs Stahlkabel bestellt hatte. Ich schickte Amanda, um es abzuholen, und kaum war sie aus dem Zimmer, rief ich die zuletzt angesehenen Seiten auf.
    Sie hatte Furtwangen gegoogelt. Auf den Ortsnamen musste sie in den Notizheften in meiner Wohnung gestoßen sein, und dabei tat es nichts zur Sache, wie viel sie insgesamt gelesen hatte. Ich ärgerte mich und bekam Angst. Meine Haut wurde hart und kalt wie Leder.
    Als die Spionin zurückkehrte und mir das Paket auf den Tisch stellte, war meine Welt längst völlig irreal geworden. Ich griff nach dem Skalpell mit dem Nagellackpunkt. Amanda stand neben mir; sie trug Jo Malone, heute ganz in Schwarz; die Knöpfe waren bemalt.
    Ehe ich das innere Packpapier zurückschlug, drehte ich mich zu ihr um und war mir sehr bewusst, dass ich ein Skalpell in der Hand hielt. Sie wich zurück, genau, wie ich es wollte.
    »Ich habe mir auf Ihrem Laptop die Verlaufsgeschichte angesehen, Amanda.«
    »Ich war nicht auf der Seite mit der Webcam.«
    »Sie haben Furtwangen gegoogelt. Warum?«
    Ihr Gesicht zeigte jenen rasend machenden Ausdruck, der sich sprachlich vielleicht mit einem ›ach nee‹ übersetzen lässt. »Offenbar«, sagte sie, »wollte ich wissen, wo es liegt.«
    Wie beiläufig legte ich meine Hand auf den Werktisch, hielt den Metallgriff aber weiterhin fest umklammert. »Warum?«
    »Ich glaube, da werden Kuckucksuhren hergestellt.«
    »Wie kommt es, dass Sie sich für Kuckucksuhren interessieren?«
    Falls sie mich wieder kratzen wollte, dann jetzt. Es war dumm von mir, das Skalpell nicht loszulassen. Zu spät wünschte ich mir, ich hätte es beiseite gelegt, aber davor fürchtete ich mich ebenso. Dann sah ich mit Erleichterung, wie ihr Tränen in die Augen stiegen.
    »Es tut mir so leid, Miss Gehrig.«
    Ich wagte es nicht, mich erweichen zu lassen. »Was tut Ihnen leid, Amanda?«
    »Ich weiß über die Notizhefte Bescheid.«
    »Welche Notizhefte?«
    »Die von Henry Brandling.«
    »Sie meinen, Sie haben sie gesehen? Wie das?«
    »Ich bin zu Miss Heller gegangen. Sie bleibt immer bis sieben.«
    Erst am nächsten Tag traf ich mich mit Miss Heller und Eric Croft und musste zu meiner nicht unbeträchtlichen Überraschung feststellen, dass Amanda die Wahrheit gesagt hatte. Und obwohl unser Gespräch damit endete, dass ich vollen Zugang zum Lesesaal erhielt, bekam ich von Heller keine Entschuldigung zu hören.
    »Wenn man nett zu mir ist, Miss Gehrig, kann ich auch sehr nett sein. Wer sich allerdings unverschämt aufführt und mir gegenüber die Vorschriften rauskehrt, für den kann ich eine ziemliche Pedantin sein.«
    Ich saß drei Meter hinter ihrem Tisch und las Henry Brandling.

Henry
    Nun, da es in Furtwangen kalt geworden ist, leidet die alte Sägemühle am Bach offenbar ebenso sehr wie wir, die

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