Chimären
stieß. Und obwohl man ihm den Familienmenschen nachsagte – sein Privatleben hielt er bedeckt –, gab er sich als unbarmherzigen, kalten und autarken Vorgesetzten, der das Letzte aus den ihm Unterstellten herauspresste.
Keines von diesen Merkmalen war an diesem Mittwoch in dem biertrinkenden Mann namens Lehmann geblieben.
‚Was für ein Tag!’, dachte er verwundert. ‚Da ärgert man sich schon beim Frühstück über den Lümmel Stephan, der einem noch in aller Eile und Hoffnung, man erfasse deshalb nur oberflächlich, die miserable Mathematikarbeit zur Unterschrift vorlegt, gerät natürlich in einen Stau, kommt zum ersten Termin zu spät, und dann widerfährt einem so etwas!’
Uwe Lehmann entstammte einer mittelständischen Familie. Die Großeltern väterlicherseits, nachkriegsgebeutelte Umsiedler, schufen mühsam die Voraussetzungen, dass Uwes Vater ein Hochschulstudium erfolgreich abschließen, die kleine Familie gründen und dem Sohn Uwe sowie seiner um zwei Jahre jüngeren Schwester eine sorgenfreie Jugend und eine solide Ausbildung ermöglichen konnte. Wie viele Menschen, die sich von der Natur benachteiligt glauben – Uwe war von mittlerem, eher kleinem Wuchs, neigte zur Korpulenz –, entwickelte er bereits als Schüler einen egozentrisch gesteuerten Ehrgeiz, der zu hervorragenden Leistungen, aber nicht zu freundschaftlichen Beziehungen in seinem sozialen Umfeld führte. Diese Art, sich zu geben, setzte er während seines Mikrobiologie-Studiums fort. Er jobbte nebenbei in einem Tierheim, wurde seiner hervorragenden Leistungen wegen beizeiten Hilfsassistent, promovierte nach dem Studium in auffallend kurzer Zeit mit einem Ergebnis, das die Fachwelt aufhorchen ließ: Er schuf die gentechnischen Voraussetzungen zur fortpflanzungsfähigen Verquickung der Tomate mit der Kartoffel. Die neue Pflanze wurde unter der Markenbezeichnung Tomoffel bekannt. Er gründete nach drei Jahren weiterer erfolgreicher Arbeit in einem Ingenieurbüro für Biotechnik sein eigenes Institut, das Institut für Anthropomorphische Anwendungen. Als fachliche Sensation ließ er sich ein Verfahren patentieren, das die Unverträglichkeit zwischen gewissen Fremdgenen in der zweiten und dritten Stufe zu verhindern gestattete. Menschen mit implantierten Organen – auch wenn diese Tieren entnommen waren – erfreuten sich dadurch bester Überlebenschancen. Die kommerziell-clevere Ausbeute dieser Erfindung bildete die finanzielle Grundlage zum Ausbau des Instituts mit seinen Niederlassungen. Lehmann warb weltweit exzellente, ehrgeizige Wissenschaftler, deren moralische Loyalität er sich in außergewöhnlichen Verträgen sicherte. Unter solchen Voraussetzungen Erfolg zu haben, barg also kaum etwas Überraschendes.
Dr. Lehmanns Gedanken lösten sich langsam aus der Vergangenheit. ‚Ja, Erfolg lässt sich programmieren – bis zu einem gewissen Grad. Aber das, was heute geschah…’ Er dachte an den morgendlichen Frust wegen seines Zuspätkommens, den gehetzten Termin und dann die routinehaf te Turnus-Berichterstattung am Quartalsende mit der ärgerlichen Einleitung der Susan Remp, der Computer sei abgestürzt, weswegen der Bericht über den Stand der Arbeiten an L 143 nicht fertiggestellt werden konnte.
‚Ausgerechnet L 143, die letzte Verträglichkeitshürde.’ Lehmann nahm einen Schluck aus dem Glas. ‚Wenn sich aber die mündliche Aussage Suleimans dazu als richtig erweist, sind wir einen Schritt weiter, einen großen.’ Er wischte über den Mund und lehnte sich zurück. Langsam stellte sich Entspannung ein. ‚Dieser Laurents! Ob er ahnt, was sein Ergebnis beinhaltet? Ahnen vielleicht. Der Trägerorganismus bestimmt das Wachstum des Okulats! Und die Lindsey legt mir vor, dass die Hirnstammzellen anschlagen. Was für ein Tag! Und dabei hat er so mies begonnen. Überhaupt die Lindsey!’
In Uwe Lehmanns Kopf formte sich eine Idee, eine faszinierende, haarsträubende. Diese neuen Ergebnisse trieben, nein, peitschten förmlich zum Experiment!
Für Bruchteile von Sekunden überfiel ihn ein Schwindelgefühl. Einen winzigen Augenblick lang dachte er an Gesetzlichkeit und Kodex. Er wischte den Gedanken mit einer heftigen Handbewegung hinweg und hätte dabei beinahe das Bierglas umgestoßen.
Der Wirt äugte argwöhnisch zu seinem Gast.
‚Warum kommt mir diese Idee im Zusammenhang mit der Erinnerung an die Arbeiten der Lindsey…?’
Lehmanns analytisches Denken setzte ein. ‚Master Shirley
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