Chimären
kommentierten den herrlichen Ausblick und schlenderten gemeinsam durch die Panoramaräume. Auf dem Weg zum Bus meinte es der Passatwind besonders gut, da hängte ihr der Begleiter seine Strickjacke um die Schultern. Auf der Rückfahrt schließlich saßen sie nebeneinander im Bus und tauschten sich über die Tageserlebnisse aus.
Und dann kam das, was Shirley Lindsey sosehr irritierte: die Verabredung.
Welchen Unterschied, zum Teufel, gab es zwischen dieser und ähnlichen Begegnungen mit dem anderen Geschlecht? Freilich, Shirley erinnerte sich, einige dieser Kontakte waren heftig, intensiv aber schließlich ohne jede Konsequenz oder Verbindlichkeit. Und hier? Ein harmloses Geschwätz während eines Pauschalausflugs. Und danach eine immerhin nicht unaufwendige Verabredung. Was war anders? Der Mann? Was an dem Mann? Ein besonderer? Sympathisch, aber kein besonderer! Shirley holte ihn in ihre Erinnerung: Ein rundes Gesicht mit hoher Stirn und so genannten Geheimratsecken, also nichts klischeehaft Kantiges. Groß ja, aber kein sportlicher Typ. ,Schöne, gleichmäßig aufgereihte Zähne und eine einfühlsame dunkle Stimme hat er. Diese Stimme – ist sie es, die ihn so anziehend macht? Gepflegte Fingernägel – auch ein Plus, ein wenig breite Hände… Und Nichtraucher ist er! Eine gute Allgemeinbildung? Auf keinen Fall eine aufdringliche. Höflich ist er und galant – meine Güte – ist das etwas Positives heutzutage? Er tanzt und kocht gern, sagt er. Gott, worüber wir uns alles unterhalten haben. Ein Softi! Und so ein Mann läuft frei herum? Eine Alleinreise, Shirley, ist kein Kriterium! Kunsthandwerker ist er, und er logiert am anderen Ende der Insel. Trotzdem die Verabredung hier bei mir, obwohl er kein Mietauto… Oje – ich habe vergessen, ihm mitzuteilen, dass dies hier eine FKK-Kolonie ist. Um siebzehn Uhr werde ich ihn nicht nackt empfangen… Ob er prüde…? Kann ich mir nicht vorstellen.
Was ist los mit dir, Master Shirley Lindsey? Warum machst du dir Gedanken um einen Kerl, einen, den du flüchtig kennengelernt hast und überhaupt? Gut – zur Verabredung stehst du, und das war’s dann!’
Als Manuel am Tag nach der Verabredung Shirley gegen Mittag für Stunden verlassen hatte, um sein Quartier zu kündigen, tauchte sie in den kühlen Ozean, folgte den schroffen Pfaden über die Klippen und versuchte Gedanken und Gefühle zu ordnen. Eines wusste sie mit Gewissheit: So durcheinander waren diese noch niemals in ihrem Leben, und sie hätte es nicht für möglich gehalten, jemals in ein solches Chaos zu geraten. Solches wäre verschossenen Teenagern vorbehalten, der Phantasie einer Courths-Mahler oder anderer gleichgearteter Liebesromanschreiber, hätte sie gedacht.
Es half nichts. Shirley musste sich eingestehen, so sehr sie sich zunächst gegen den Gedanken wehrte: ,Ich habe mich verliebt! Ich dumme alte Kuh habe mich verliebt! Und ich bin obendrein darüber keineswegs unglücklich!’
Beinahe gewaltsam holte sie die Erinnerung an das Institut, die Heranwachsenden, den bevorstehenden Großversuch und das damit verbundene Risiko in ihr Denken. ,Es wird schon werden! Noch habe ich ein paar Tage Urlaub, und abends ist Manuel wieder hier…’
M anuel Georges hatte nach einem aufregenden Scheidungsdrama auf Lanzarote Entspannung gesucht, gleichzeitig aber das Wirken des legendären Caesare Mandrique vor Ort kennenlernen, studieren wollen. Seine eigenen künstlerischen Ambitionen gingen in ähnliche Richtung wie die dieses Inselgenies. Ganz Lanzarote war von dessen Visionen geprägt, und auf seinen Spuren verflüchtigten sich Kummer und Ärger über das Scheitern der Partnerschaft. Die Absicht, eine neue Beziehung einzugehen, hatte er unter keinen Umständen. Er fühlte sich vom Magnetschlag mit Shirley Lindsey ebenso überrascht wie diese. Schon nach den weni gen Stunden des Zusammenseins waren beide fest entschlossen, ein gemeinsames Leben zu probieren. Und da Manuel ohnehin vor einem Neubeginn stand, sollte das bei Shirley stattfinden, vorerst in der ausreichend geräumigen Wohnung der Frau. Manuel spielte mit dem Gedanken – bestärkt von Shirley – sich selbstständig zu machen, eine eigene Firma zu gründen. Mit dem guten Einkommen der Frau – im Zusammenhang mit dem bevorstehenden Experiment von Lehmann sogar noch großzügig aufgestockt –, ließ sich jede Anfangsflaute überbrücken. Die wenigen Tage, die Shirley noch auf der Insel verblieben – für Manuel gab es keine
Weitere Kostenlose Bücher