Chronik der dunklen Wälder - Blutsbruder (German Edition)
Als das Licht zu einem sanfteren Gold wechselte, kam endlich das Steinmaul, der Ausgang des Großen Waldes, in Sicht.
Fin-Kedinn fragte Torak halb nach hinten gewandt, ob es ihm leidtue, seinen Geburtsort zu verlassen.
»Nein«, antwortete Torak, obwohl ihn dieses Eingeständnis ein wenig betrübte. »Ich gehöre nicht hierher. Der Rotwildclan hätte dem Eichenschamanen lieber den Wald überlassen, als gegen ihn zu kämpfen. Und die anderen … die wollten jeden umbringen, der nicht den Wahren Weg beschritten hat. Jetzt würden sie, glaube ich, am liebsten jeden umbringen, der ihm gefolgt ist. Wie soll man solchen Menschen vertrauen?«
Fin-Kedinn sah einer Schwalbe zu, die im Flug eine Fliege fing. »Sie brauchen Gewissheit, Torak. Wie Efeu, der sich an eine Eiche klammert.«
»Und du? Brauchst du keine Gewissheit?«
Fin-Kedinn legte sein Paddel quer über das Boot und drehte sich zu ihm um. »Als ich noch jung war, bin ich in den Hohen Norden gegangen und habe dort mit dem Eisfuchsclan gejagt. Eines Nachts sahen wir die Lichter am Himmel und ich sagte: Seht doch, dort ist der Erste Baum. Die Eisfüchse lachten. Sie sagten: Das ist kein Baum, das sind die Feuer, die unsere Toten anzünden, damit ihnen nicht kalt wird. Später dann, als ich am Axtkopfsee war, erzählte mir der Otterclan, die Lichter seien ein großes Schilfbett, das den Geistern ihrer Vorfahren Schutz gewährt.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Wer von ihnen hat recht?«
Torak schüttelte den Kopf.
Fin-Kedinn nahm sein Paddel wieder auf. »Es gibt keine Gewissheit, Torak. Früher oder später wirst du den Mut finden, dich dieser Erkenntnis zu stellen.«
Torak dachte daran, wie die Auerochsen und Waldpferde die Bäume bemalt hatten. »Ich glaube, manche Leute stellen sich ihr nie.«
»Das stimmt. Aber nicht alle im Großen Wald sind wie sie. Deine Mutter war anders. Sie besaß mehr Mut.«
Torak legte die Hand auf seinen Medizinbeutel. Er hatte Fin-Kedinn nicht gesagt, was er über das Horn erfahren hatte. Nur Renn hatte er es erzählt – und da Renn nun mal Renn war, war ihr sogleich etwas aufgefallen, woran er nicht gedacht hatte. »Vielleicht hat es dir die ganze Zeit über geholfen. Ich habe mich schon immer darüber gewundert, warum die Seelenesser nie bemerkt haben, dass du ein Seelenwanderer bist. Und dieses Summen im Heiligen Hain? Vielleicht hat es den Weltgeist herbeigerufen. Obwohl ich glaube, dass wir das nie mit Gewissheit herausfinden werden.«
Keine Gewissheit, dachte Torak. Diese Vorstellung durchwehte ihn wie ein klarer, kalter Wind.
Als sie durch die Dunkelheit des Steinmauls glitten, warf er noch einen Blick zurück. Die tief stehende Sonne leuchtete auf den bemoosten Fichten, und fast kam es ihm so vor, als flüsterten sie einen Abschiedsgruß. Er dachte an das verborgene Tal, in das die Clans des Großen Waldes Thiazzis Leichnam gebracht hatten, um dort ihre geheimen Begräbnisrituale auszuführen. Er dachte an den Heiligen Hain, wo die großen Bäume standen, so wie sie schon seit tausend Sommern dort gestanden hatten, und dabei zusahen, wie die Geschöpfe des Waldes ihre kurzen, ständig bedrohten und vom Kampf bestimmten Leben lebten. Machten sie sich etwas daraus, dass er seinen Schwur gebrochen hatte? Hatten sie es womöglich längst vergessen?
Seit Bales Tod war nicht einmal ein Mond vergangen, dabei kam es ihm wie ein ganzer Sommer vor. »Ich habe gelobt, ihn zu rächen«, sagte Torak zu Fin-Kedinn. »Aber ich konnte es nicht tun.«
Der Anführer der Raben wandte sich um und sah ihm in die Augen. »Du hast deinen Schwur gebrochen, um Renn zu retten«, sagte er. »Glaubst du nicht, dass er – wenn die Dinge anders verlaufen wären und er geschworen hätte, dich zu rächen – an deiner Stelle das Gleiche getan hätte?«
Torak wollte etwas erwidern, machte den Mund aber gleich wieder zu. Fin-Kedinn hatte recht. Bale hätte nicht gezögert.
»Du hast richtig gehandelt«, sagte Fin-Kedinn. »Ich glaube, sein Geist hat seinen Frieden gefunden.«
Torak musste schlucken. Als er seinem Ziehvater dabei zusah, wie er das Paddel kräftig ins Wasser tauchte, verspürte er eine große Liebe für ihn. Er wollte ihm dafür danken, dass er ihm diese schwere Bürde von den Schultern genommen hatte, und dafür, dass er über ihn wachte, dafür, dass er Fin-Kedinn war. Aber der Rabenführer war vollauf damit beschäftigt, ihr Kanu um einen unter der Wasseroberfläche liegenden Baumstamm zu lenken und Renn im
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