Ruf der Sehnsucht - Historical Special Bd 33
1. KAPITEL
Bordeaux, Oktober 1226
Nebelschwaden wälzten sich träge die Hügel hinauf. Magisch angezogen von den Lockungen der sanften Anhöhe vor ihr, erschauerte Sophie unter einem gespannten Frösteln, das ihr nur zu vertraut war. Je näher sie kam, desto deutlicher hoben sich die verschwommenen Umrisse hünenhafter Gebilde aus dem milchigen Dunst. Die ganze Zeit hatte Sophie gewusst, dass die Gestalten da waren und lautlos in der Dämmerung auf sie warteten. Wie üblich hüllte der Nebel sie ein, sodass Sophie ihre Gegenwart eher ahnte denn wirklich sah. Als sie sich zögernd in ihre Mitte vorwagte, erfasste sie, umfangen vom eisigen Hauch jener Wesen, ein kaltes Grausen, das ihr eine Gänsehaut über den Körper jagte.
Wieder wurde Sophie von einem Schauder erfasst, sowohl vor Kälte als auch vor banger Erwartung dessen, was geschehen würde. Doch ihre Neugier zwang sie vorwärts. So weit das Auge reichte, lag die Landschaft in schattenhafte Blau-, Grün- und Grautöne getaucht, umwallt von einem geheimnisvollen Schleier aus geisterhaften Schwaden. In ihrer gespannten Erwartung war Sophie jedoch nicht allein. Es war, als halte die Erde selbst den Atem an und warte darauf, dass etwas Entscheidendes geschehe – auf dieser Lichtung, in dieser Nacht.
Sophie horchte. Vom nahen Ufer dröhnte das eintönige Tosen der See herüber, das Donnern der Wellen, die gegen die Klippen brandeten, und irgendwie hatte sie das Gefühl, als könne sie das Salz bereits riechen. Auf dem Hügelkamm hielt sie inne und stellte fest, dass sie im Mittelpunkt eines Kreises aus riesenhaften Schemen stand. Sie schluckte bei dem Gedanken an das, was sie nun tun musste. Verzweifelt bemüht, ihr wachsendes Grauen zu unterdrücken, drehte sie sich langsam um, wohl wissend, welcher Anblick sich ihren Augen bieten würde.
Erwartet hatte sie eine bestimmte Gestalt, eine, die stets wachsam und geduldig auf Sophies Erkennungszeichen harrte. Umso größer war Sophies Bestürzung, als plötzlich diese rätselhafte Erscheinung dort stand, gehüllt in einen kuttenartigen Überwurf. Kein Wort des Grußes wurde Sophie zuteil, sondern allein die Wucht des Blickes, als jenes Wesen sie schweigend musterte. Sophie sah hinunter auf das heruntergebrannte Kohlefeuer, das zwischen ihnen glomm. Dann schaute sie zaudernd wieder auf, bemüht, die im Schatten der Kapuze halb verborgenen Augen ihres Gegenübers zu erkennen, jedoch ohne Erfolg.
Ihr Herz pochte rasend, als sie sah, wie die reglose Gestalt zum Leben erwachte und vortrat. Zielstrebig schritt sie durch die Nebelschwaden auf Sophie zu, erhellt vom Schimmer der verlöschenden Glut – ein warmer, güldener Schein in den sonst dumpfen Blau- und Grauschatten der Umgebung.
Erstickt hielt Sophie den Atem an, als ihr die kaum wahrnehmbare Veränderung auffiel. Das Wesen, das auf sie zukam, war viel größer als sonst und konnte unmöglich die Frauengestalt sein, für die sie es stets gehalten hatte. Je kürzer die Distanz zwischen ihnen wurde, je mehr Sophie sich bemühte, diesen unerwarteten Wandel zu begreifen, desto energischer musste sie sich zwingen, auszuharren und abzuwarten, auch wenn sie sich noch so sehr ängstigte.
Der schwere wollene Mantel bauschte sich, als sich das Wesen näherte. Sophies Herzschlag ging immer rascher und pochte bald im Takt mit den sich nähernden Schritten, bis ihr der Puls so in den Ohren dröhnte, dass er sogar das Brausen der Brandung übertönte. An Flucht jedoch war nicht zu denken, denn Sophie stand wie vom Donner gerührt, reglos wie die Riesenschatten ringsum. Immer näher kam die stumme Gestalt, die Züge nach wie vor im Dunkel der Haube verborgen. Fröstelnd krallte Sophie die Finger in ihren Überwurf.
Auf Armeslänge von ihr entfernt blieb das Wesen plötzlich stehen. Die breiten Schultern, hervorgehoben vor dem inzwischen nicht mehr sichtbaren Feuer, tauchten Sophie in einen eisigen Schatten. Sie erschauerte unter seinem Blick und konnte den langen, spannungsvollen Moment nur mit Mühe ertragen. Turmhoch ragte die Gestalt über ihr auf, dunkel wie die Schatten all der geheimnisvollen, in ihre Nebelschleier gehüllten Figuren um sie herum. Allmählich aber spürte Sophie die Hitze, die von ihm ausging.
Es war eine zutiefst menschliche Wärme, ganz anders als die schaurige Kälte jener steinernen Formen, und zum ersten Mal fürchtete Sophie sich nicht vor dem, was da womöglich ihrer harrte. Doch dieses ihr unbekannte Gefühl konnte sie nur kurz genießen,
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