Meeresblau
Prolog
D er alte Fischer stand an der Reling seines Kutters, paffte eine Pfeife und starrte in das Meer hinab. In letzter Zeit genoss er seine Fahrten mehr denn je, denn bei jeder hatte er das Gefühl, es könnte seine letzte sein. Längst fuhr er nicht mehr zum Fischen hinaus, sondern zeigte seiner Tochter die Welt, die ihn seit vielen Jahrzehnten verführte. So erfolgreich, wie es nicht einmal ihre Mutter vermocht hatte. Gleich würde seine Tochter, die im Schiffsbauch am Logbuch schrieb, sich zu ihm gesellen.
Der Fischer bedauerte das herannahende Ende seines Daseins nicht. Selbst wenn er hier und jetzt sterben würde, wäre es gut so. Sein Leben war reich und erfüllt gewesen, er strebte nach nichts mehr. Nur ein Wunsch brannte noch in ihm: Er wollte auf dem Meer sterben. Hier auf seinem Kutter, mit Blick auf die Wellen.
Der Fischer nahm noch einen Zug aus seiner Pfeife. Vor ihm tauchten in der Dunkelheit die Felsen des Riffs auf, weit genug entfernt, um keine Gefahr zu bilden. Das Licht der Mondsichel überhauchte sie mit fahlem Silber, sodass er erkennen konnte, dass auf einem der Felsen etwas saß.
Neugierig nahm der Alte die Pfeife aus dem Mund. Seine Augen waren noch immer scharf, denn in all den Jahren auf See hatte er sich auf sie verlassen müssen und sie nicht wie andere Menschen durch Computer- oder Fernsehbildschirme verdorben. Trotzdem erkannte er nicht genug, also suchte er nach dem Fernrohr, fand es unter einer Plane und sah hindurch. Als er das vermeintliche Tier deutlicher erkennen konnte, durchfuhr ihn ein Schauder der Ungläubigkeit.
„Ist das etwa … aber das ist doch eine … Herr im Himmel. Eine echte …“
Ihm stand der Mund offen. Er sah leuchtende Haut und ein schmales Gesicht, das von langen, dunklen Haaren umrahmt war und selbst aus der Entfernung Zeugnis davon ablegte, wie wunderschön die Frau sein musste. Doch das Erstaunlichste war, dass dort, wo die Hüften sanfte Rundungen bildeten, ihr menschlicher Körper in etwas anderes überging. In den silbrigweißen Leib einer Nixe.
Dem Fischer stockte der Atem. Sah er wirklich richtig? Sah er eine Meerjungfrau? Eine wahrhaftige, echte Meerjungfrau? So wie in den Legenden, die sich überall auf der Welt die Seeleute erzählten? So wie in dem Buch, das unten in seiner Koje lag?
Anmutig ließ sich das Wesen in das Wasser gleiten und tauchte unter. So schnell war es seinen Augen entschwunden, dass es dem Fischer wie eine Einbildung erschien. War das Wesen doch nur ein Trugbild aus Gischt gewesen? Ein Spiel der Wellen, die sich am Riff brachen, gepaart mit der durchgehenden Fantasie eines alten Mannes? In letzter Zeit war er wunderlich geworden, das stimmte. Aber eingebildet hatte er sich nie etwas.
„Geh nicht“, flehte er. „Ich will wissen, dass du real bist. Ich habe immer gewusst, dass es mehr da draußen gibt, als einem die Landratten weismachen wollen. Komm zurück. Ich will etwas, das ich mitnehmen kann. Ich will einen Beweis.“
Stechende Schmerzen durchzuckten seinen Brustkorb, strahlten in den linken Arm aus. Der Alte bekam es mit der Angst zu tun, doch plötzlich tauchte ein silberheller Schatten unter ihm im Wasser auf. Es war die Meerjungfrau. Lächelnd, umwallt von schwarzem Haar und so schön, dass es wehtat, sie anzusehen. Die Hände des Fischers krallten sich um die Reling, wild hämmerte das Herz. Hier stand er, mit einem Bein schon im Grab, und erblickte den Traum eines jeden Seemanns. Die Geschichten waren wahr. Es gab sie, die atemberaubenden Sirenen der Tiefe. Die Jungfrauen der Wellen, die menschliche Seelen umgarnten und mit sich nahmen. Sicher war sie gekommen, um auch ihn zu holen. Seine Angst, ohnehin nur flüchtig, löste sich in Sehnsucht auf.
„Ich bin bereit“, rief der Alte. „Nimm mich mit.“
Ein Muster aus Streifen und Sprenkeln überzog den Fischleib des Wesens, so weiß, dass es bläulich schimmerte. Wie das Mondlicht in besonders hellen Nächten. Manchmal erschien es ganz deutlich, dann wieder verschmolz es mit dem Silber der glatten, hier und da von Schuppen verzierten Haut. Als die Frau ihm den Rücken zudrehte, sah er, dass sich dieses Muster wie ein feines Netz an ihrer Wirbelsäule emporwand. Auf der Rückenlinie des Fischleibes stellte sich eine lang gezogene Flosse auf, deren Strahlen in nadelspitzen Stacheln endeten. Die Meerjungfrau wandte sich ihm wieder zu und sagte etwas. Worte in einer Sprache, die er nicht verstand, und deren Sinn er dennoch begriff. Ihre Hände streckten
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