Chroniken der Dunkelheit - 01 - Eisdrache
Kopf!
Statt nach oben blickte er auf einmal nach unten, in den schwarzen Abgrund des tosenden Meeres, in dem er hin und her geworfen wurde. Er sah die geschundene Spearwa und über das Deck verstreut kleine, zweibeinige Wesen. Die Wellen schlugen über ihnen zusammen und sie blieben liegen wie Fliegen, die jemand totgeschlagen hat. Bald würde das Schiff auseinanderbrechen, dachte er, und dann waren sie alle weg und das Meer war wieder leer.
Nur eine einzige lebende Seele blickte zu ihm auf, ein weißes, rundes Gesicht mit einem Schopf heller Haare, weit aufgerissenen Augen und einem schwarzen, runden Mund, zu einem Schrei geöffnet, der ihm in den Ohren gellte …
Adrian sah auf sich selbst hinunter, wie er sich an dem Tau um den Mast festklammerte. Das Schreien wollte nicht aufhören. Doch dann kehrten seine Augen zu ihm zurück und er machte die Lider fest zu, damit er sich nicht mehr so unheimlich von oben sehen musste. Er schloss auch den Mund und erstickte den Schrei. Zitternd und schwindlig hing er an dem wassergetränkten Tau wie eine Entenmuschel.
Die Gischt brachte ihn zur Besinnung. Er bekam Salzwasser in die Augen und zwinkerte heftig. Er stand wieder auf Deck, um ihn herum tobte der Sturm und Männer zerrten verzweifelt an ihren Rudern. Das Mädchen neben ihm starrte ihn seltsam an. Was hatte es gesehen? Bevor er es fragen konnte, lief das Schiff mit ohrenbetäubendem Krachen auf Grund. Das Deck riss auf und Adrian flog durch die Luft.
Diesmal rettete ihn keine Spiere. Betäubt blieb er auf dem Rücken liegen. Die nächste Welle riss ihn über Bord. Doch bevor das Meer ihn schluckte, blickte er noch einmal für einen kurzen Moment zum Himmel auf und sah das geflügelte Ungeheuer.
Es schwebte über ihm, größer noch als das Schiff, und glänzte im Schein der Blitze gespenstisch blau. Ein Auge so groß wie der Schild eines Kriegers blickte in kalter Berechnung auf ihn nieder. Dann brach das Schiff auseinander und der Mund des Ungeheuers, eine feurige Höhle voll langer, spitzer Zähne, verzog sich zu einem höhnischen Grinsen.
2. KAPITEL
Mauern türmten die Wellen sich auf und Elsa begann an ihrem Glauben zu zweifeln. Herr, was hast du getan? Wie konnte das Meer, das sie so sehr liebte, zu ihrem Todfeind werden? Sie machte die Augen fest zu und biss die Zähne zusammen. Die Spearwa tauchte in die Wellen ein und legte sich immer schräger, bis Elsa fürchtete, sie würde sich nie mehr aufrichten.
Noch nie in ihrem Leben hatte sie einen solchen Sturm erlebt, obwohl die Hafenstadt Dubris für ihre Winterstürme genauso bekannt war wie für die mächtigen weißen Klippen, von denen man an klaren Tagen bis Gallien sehen konnte. Auch in den drei Jahren, die sie mit ihrem Vater zur See fuhr, hatte sie keinen solchen Sturm erlebt, selbst wenn sie draußen vor Penseance so manche steife Brise durchgestanden hatten.
Dieser Sturm war anders. Er war aus dem Nichts entstanden, aus einer ruhigen Frühlingsnacht.
Bei jedem Ächzen der Balken wurde sie von nackter Angst gepackt. Vor dem verängstigten Jungen mit den hellen Haaren ließ sie sich das natürlich nicht anmerken. Sie fuhr zur See und war stolz auf ihren Beruf, der sonst nur von Männern ausgeübt wurde. Dem Meer gehörten ihr Leben und ihre Liebe, seit ihre Mutter am Fieber gestorben war und ihr Vater sie mit an Bord genommen hatte. Einige Matrosen hatten natürlich gemurrt und sie hatte es am Anfang schwer gehabt, doch schließlich alle überzeugt. Sie hatte schnell gelernt, konnte bald den Kompass lesen, half ihrem Vater, die Waren im Frachtraum anhand der Kerbhölzer zu überprüfen, und reffte zusammen mit Bootsmann Harkiron sogar die Segel. Inzwischen war sie elf und alle gingen davon aus, dass Elsa, Trymmans Tochter, dem Vater eines Tages als Kapitän der Spearwa nachfolgen würde. Doch nun schien alles verloren. Ängstlich dachte sie an den Vater, der sich an der Ruderpinne abmühte. Zu gern hätte sie in diesem Kampf gegen das Meer an seiner Seite gestanden.
Als der Junge mit den hellen Haaren schrie, riss sie die Augen auf. Vor ihnen ragte ein schwarzer Sporn aus dem Wasser wie der Turm des Gotteshauses von Bradwell. Dahinter standen wie schwarze Drachenzähne weitere Basaltsäulen. Doch der Junge starrte unverwandt zum Himmel hinauf. Warum hatte er geschrien?
Ein ohrenbetäubender Krach ertönte.
Die Spearwa war gegen die Felsensäule geprallt. Elsa wurde von den Tauen um ihren Oberkörper gehalten, doch den Jungen hielt nichts.
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