Chroniken der Dunkelheit - 01 - Eisdrache
Ungeheuer, das über dem lecken Schiff geschwebt und ihn, der auf dem auseinanderbrechenden Deck lag, mit seinem riesigen Auge angestarrt hatte. Nur ganz kurz hatte er den Blick erwidert, doch dessen Grausamkeit hatte sich wie ein Brandzeichen in sein Bewusstsein gebrannt.
»Der Drache heißt Taragor«, sagte Aagard. »Du brauchst dich nicht zu schämen, wenn du Angst hattest. Bei seinem Anblick haben schon starke Männer geweint. Götter sind im Kampf gegen ihn gestorben.«
Adrian schwieg.
Der Alte lächelte freudlos. »Du hast geglaubt, Drachen gäbe es nur im Märchen? Zugegeben, man hat sie jahrhundertelang von den Menschen ferngehalten. Aber wenn es genügend Gründe dafür gibt, kehren sie zurück. Ich versichere dir, was du gesehen hast, war wirklich.«
»Da war noch was«, platzte Adrian heraus, und bevor er es sich anders überlegen konnte, erzählte er Aagard von dem seltsamen Gefühl kurz vor dem Untergang der Spearwa, als ihm gewesen war, als schwebe er hoch über dem Schiff. Er hatte auf sich selbst hinuntergeblickt. »Ich glaubte, ich sei verrückt geworden«, gestand er.
Aagard betrachtete ihn ernst und ohne eine Spur von Verachtung oder auch nur Überraschung. »Das hast du dir nicht eingebildet«, sagte er. »Du bist – lass mich überlegen – elf Jahre alt?« Adrian nickte. Worauf wollte der Alte hinaus? »Und als du auf dich hinuntergeblickt hast«, fuhr der Alte fort, »hattest du da immer noch vor dem Sturm Angst?«
»Natürlich …« Adrian brach ab. In jenem schwindelerregenden Moment hatte er keine Angst gehabt. Das Schiff hatte ausgesehen wie ein von Insekten bevölkertes Stück Holz. Und er hatte sich gefreut, es untergehen zu sehen! Erschrocken und verwirrt senkte er den Kopf.
Aagard berührte ihn sanft am Arm. »Du hast nicht den Verstand verloren«, sagte er. »Du hast durch die Augen eines anderen geblickt. Durch die Augen des Drachen.«
Ich habe was? Adrian brachte vor lauter Schreck kein Wort heraus. Er starrte den Mann an. Wovon redete er?
»Was weißt du über die Dunkelaugen?«
Adrian zuckte zusammen, als hätte Aagard ihn geschlagen. In jedem größeren Haus hatte man von den Dunkelaugen gehört, jenen seltenen, mit dem Zweiten Gesicht begabten Männern und Frauen, die in das Bewusstsein eines anderen Menschen eindringen und mit seinen Augen sehen konnten. Dunkelaugen galten überall als Außenseiter und eigener Menschenschlag. Wer es sich leisten konnte, setzte sie als Informanten und Spione ein.
Aagard betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Du weißt etwas, das merke ich. Du bist wahrscheinlich nicht der Erste in der Familie. Hat dein Vater diese Fähigkeit auch?«
»Aber die Dunkelaugen sind doch nur Verräter und Landstreicher! Menschen ohne Herren, die keine Treue kennen. Mein Vater …« Gerade noch rechtzeitig fiel ihm die Warnung seiner Mutter ein und er brach ab. Er durfte den Namen seines Vaters nicht nennen. »Ich komme aus einer ehrbaren Familie«, schloss er steif. »Bei uns gab es nie Spione oder Verräter.«
»Trotzdem besitzt du die Fähigkeiten eines Dunkelauges«, sagte Aagard sanft.
»Nein!«, widersprach Adrian wütend. »Wenn ein … ein Drache in mein Bewusstsein eindringt …«
»Umgekehrt«, unterbrach Aagard ihn. Seine Stimme klang schärfer. »Du bist in sein Bewusstsein eingedrungen. Und zwar ohne dass er es bemerkte, sonst hätte er dich getötet.«
Adrian schwieg. Aagard fasste ihn an den Schultern und sah ihn aufmerksam an. »Ich weiß einiges über die Dunkelaugen«, sagte er. »Als du die Augen aufgemacht hast, habe ich gleich vermutet, dass du einer bist. Doch durch die Augen eines Drachen zu sehen …« Er ließ die Hände fallen und seine Stimme klang drängend.
»Du verfügst über eine große Macht, doch macht dich das nicht zu einem Spion oder Verräter. Es stimmt, die Dunkelaugen sind oft Ausgestoßene. Die Menschen haben immer Angst vor dem, was sie nicht verstehen. Es stimmt auch, dass einige Dunkelaugen ihre Fähigkeiten dazu missbraucht haben, nach Gewinn und Macht zu streben. Aber das muss nicht so sein!«
Elsa saß am Feuer und hörte die wie im Streit erhobenen Stimmen der beiden anderen. Adrian war so hochmütig, dachte sie. Konnte er nicht einmal zu dem Mann höflich sein, der sie bei sich aufgenommen hatte? Doch im Grunde war es ihr egal. Ihre Gedanken kreisten um ihren Vater. Er stand vor ihr, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte, rief Befehle und steuerte das Schiff ruhig und bestimmt durch den Sturm,
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