Die Aufrichtigen (German Edition)
Prolog
Julia sah in das verzerrte Gesicht ihres Vaters. Sie ließ sich zu Boden fallen, wollte ihn umarmen und schreckte zurück. Seine Augen waren kalt. Starr und verdreht, verdreht wie der ganze Körper des alten Mannes.
Professor Ernst Adeodatus Spohr lag auf dem Teppich seines Arbeitszimmers hinter dem Schreibtisch. An der Lehne des Sessels stand ein großes Kruzifix aufgerichtet, davor die aufgeschlagene Bibel auf dem Fußschemel. Die beiden obersten Knöpfe seines Hemdes waren abgerissen, der Seidenschal hing schlaff vom Hals. Julia vergrub das Gesicht in den Händen. War das wirklich ihr Vater? Sie krümmte sich vor der Leiche. Aber sie konnte nicht weinen, nicht in diesem Augenblick. Keine Träne für den Toten. Hatte sie ihn geliebt? Wie Töchter eben Väter lieben? Oder mehr? Sie wusste keine Antwort.
Wäre sie der dunklen Ahnung doch nur nachgegangen! Jetzt würde nie mehr etwas gut! Sie war verstrickt in die Geschichte, war dazu verdammt zu verstehen. Wer die Geschichte kennt, wird zum Wissenden. Und wehe, wenn man es nicht erträgt, wehe, wenn der Glaube fehlt. Dann ist man verloren! Wie er.
Obwohl Julia alles daran setzte, sich in ihrer kleinen heilen Welt zu verstecken, führte sie kein normales Leben. Sie hatte es nicht geschafft, von ihrem Vater loszukommen, der über die gemeinsame Arbeit noch immer ihr Leben bestimmte. Der große Kirchenkritiker hatte sich nie damit abfinden können, dass seine Tochter die vielversprechende Karriere als Historikerin geopfert hatte, um einen nach seinem Geschmack viel zu schlichten Mann zu heiraten. Doch sie hatte sich schon bei der ersten Begegnung an ihn verloren, war völlig machtlos und drückte sich instinktiv an ihn. Er war der einzige One-Night-Stand ihres Lebens und sie fühlte sich zum ersten Mal als Frau. Durch diesen Mann, der sie mit Urgewalt eroberte, wurde sie mitgerissen von der unerklärlichen Bestimmung, die Mann und Frau zu erfüllen haben. Sie wurde Mutter und war glücklich damit.
Von klein auf arbeitete sie als Assistentin ihres Vaters und wuchs in dem Bewusstsein auf, an etwas Exklusivem teilzuhaben. Doch dieses Privileg forderte einen hohen Preis. Ihr Vater riss sie aus der Kinderwelt und ihre Mutter starb viel zu früh, als dass sie die feste Basis einer normalen Erziehung hätte schaffen können. Und Julia bekam die Besserwisserei der Gutmeinenden zu spüren. Noch ehe sie verstand weswegen, noch ehe sie die Bedeutung des Wortes kannte, war sie als ›Ketzerkind‹ verschrien. Anfangs reagierte sie trotzig darauf, später erwachte der Stolz. Das half ihr über Vieles hinweg.
Jetzt kniete sie vor der Leiche ihres Vaters und gewöhnte sich allmählich an den Gedanken, nicht im Mindesten überrascht zu sein. Sie stand auf, nahm ihr Handy und wählte den Notruf.
»Mein Vater ist tot«, sagte sie, »ermordet, glaube ich.«
Mechanisch gab sie die Adresse an und buchstabierte sogar ihren Namen. Wahrscheinlich stellte man ihr nur deshalb all diese quälenden Fragen, damit sie nicht den Verstand verlor.
Ein Stück Papier lag zusammengeknüllt neben dem Toten. Sie hob es auf und erkannte die saubere Handschrift ihrer Mutter. Bislang war sie immer davon ausgegangen, all ihre Briefe zu kennen, denn schon früh hatte sie damit begonnen, alles zu erforschen, was ihre Mutter betraf. Sie sammelte ihre persönlichen Sachen wie Quellen, katalogisierte und archivierte sie und wenn sie damit fertig war, durchsuchte sie das Haus von Neuem und katalogisierte und archivierte weiter. Aber dieser Brief war ihr unbekannt.
Mein lieber Ernst,
nach all unseren Jahren fällt es mir schwer, Abschied von Dir zu nehmen. Ich war oft sehr traurig wegen Dir, zu lange habe ich gehofft und gebetet, dass alles wieder gut wird. Wenn ich aber ehrlich zu mir selbst bin, dann ahnte ich es von Anfang an. Unser Glück war zu groß. Ich wusste es seit jenem verhängnisvollen Tag, an dem Du so viel mehr verloren hast, als ich. Nur mein Körper ist krank und welkt vor der Zeit, vergiss das nicht.
Julia konnte nicht weiter lesen. Sie strich den Brief auf dem Oberschenkel glatt. Eine Träne ließ die blaue Tinte zerfließen. Bisher war sie zusammen mit ihrem Vater auf der anderen Seite gestanden. Nun war sie ganz allein. Die Reifen der Polizeiautos knirschten im Kies. Sie steckte den Brief in die Tasche.
»Wie ist mein Vater gestorben?«
Julia kauerte an einer Wand im Wohnzimmer und hielt einen Beamten im weißen Overall auf, der sich an ihr vorbei stehlen wollte. Der Mann sah
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