Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
jede herkömmliche Abstellkammer.
Will schob eine der Truhen zur Seite, um eine rechteckige Fläche auf dem Holzboden freizuräumen. Dabei wirbelte weiterer Staub auf und Jem hustete und bedachte seinen Freund mit einem vorwurfsvollen Blick. »Wenn deine Motive nicht wie immer bestenfalls als nebulös zu bezeichnen wären, könnte man meinen, dass du uns hierher gebracht hast, um uns zu ermorden«, krächzte er.
»Nicht ermorden«, murmelte Will. »Warte einen Moment - ich muss noch eine weitere Truhe verrücken.«
Während Will das schwere Möbelstück gegen die Wand schob, warf Tessa Jem einen Seitenblick zu. »Was hat Gabriel mit ›deine Behinderung‹ gemeint«, fragte sie mit gesenkter Stimme, damit Will sie nicht hören konnte.
Jems silberne Augen weiteten sich einen kurzen Moment, ehe er erklärte: »Meine schlechte Gesundheit. Das ist schon alles.«
Doch Tessa wusste sofort, dass er log. Er hatte denselben Ausdruck in den Augen wie ihr Bruder, wenn er ihr eine Lüge auftischen wollte - etwas zu unschuldig, zu aufrichtig, um wahr zu sein.
Aber noch bevor sie etwas erwidern konnte, richtete Will sich auf und verkündete: »So, das hätten wir. Kommt her und setzt euch.« Dann ließ er sich auf dem staubigen Boden nieder und zückte erneut seine Stele. Während Jem seinem Beispiel folgte, zögerte Tessa noch und veranlasste Will zu einem schiefen Lächeln. »Willst du dich nicht zu uns gesellen, Tessa? Oder hast du Sorge, das hübsche Kleidchen zu ruinieren, das Jessamine dir gekauft hat?«
Genau genommen entsprach das der Wahrheit: Tessa verspürte nicht den geringsten Wunsch, das eleganteste Ensemble, das sie je besessen hatte, zu beschädigen. Aber Wills spöttischer Ton war ihr unerträglicher als der Gedanke an das ramponierte Kleid. Also biss sie die Zähne zusammen, schürzte die Röcke und ließ sich gegenüber den beiden Schattenjägern so auf den Holzdielen nieder, dass sie eine Art Dreieck bildeten.
Will drückte die Stele wie einen Stift auf den schmutzigen Boden und begann zu zeichnen. Breite schwarze Linien flossen aus der Spitze, die Tessa gebannt beobachtete. Die Bewegungen der Stele hatten etwas Faszinierendes und Wunderschönes an sich - ihre Linien wirkten nicht wie Tusche, die sich aus einem Füllfederhalter ergoss, sondern eher so, als wären sie schon immer dort gewesen und würden von Will nur freigelegt.
Nach ein paar Sekunden stieß Jem plötzlich ein ungläubiges Schnauben aus; offenbar hatte er gerade erkannt, welches Runenmal sein Freund da anfertigte. »Was um Himmels willen ...?«, setzte er an, doch Will hielt abwehrend die andere Hand hoch und schüttelte den Kopf.
»Unterbrich mich nicht«, sagte er. »Wenn mir hierbei ein Fehler unterläuft, könnte es passieren, dass wir durch den Boden sacken.« Jem verdrehte die Augen, was aber keine Rolle zu spielen schien: Will hatte sein Werk bereits vollendet und steckte die Stele wieder ein. Tessa schaute auf die von ihm angefertigte Rune - und stieß dann einen kurzen, überraschten Schrei aus, als die verzogenen Holzdielen zwischen ihnen zu schimmern begannen und schließlich gänzlich durchsichtig wurden. Sie vergaß ihr neues Kleid, beugte sich rasch vor und starrte durch den Boden wie durch eine Glasscheibe.
Nach einem Moment begriff sie, dass sie von oben in die Bibliothek hineinschaute: Sie konnte den großen Tisch sehen und die Schattenjäger, die daran Platz genommen hatten, Charlotte zwischen Benedict Lightwood und der eleganten, weißhaarigen Frau. Selbst von oben war Charlotte leicht zu erkennen - an ihrem ordentlichen Haarknoten und den schnellen Handbewegungen, die jedes ihrer Worte zu begleiten schienen.
»Warum hier?«, wandte Jem sich leise an Will. »Warum nicht in der Waffenkammer? Die liegt doch direkt neben der Bibliothek.«
»Schall bewegt sich in alle Richtungen, also können wir genauso gut von hier oben zuhören«, erklärte Will. »Außerdem: Wer vermag schon zu sagen, ob nicht irgendeiner der Anwesenden während der Versammlung auf die Idee kommt, einen Blick in die Waffenkammer zu werfen, um unsere Bestände zu inspizieren? Das ist schließlich schon öfter passiert.«
Tessa, die noch immer fasziniert durch die Dielen starrte, stellte erstaunt fest, dass sie tatsächlich ein leises Stimmengewirr vernehmen konnte. »Sind wir ebenfalls zu hören?«, fragte sie beunruhigt.
Will schüttelte den Kopf. »Diese Rune funktioniert nur in eine Richtung.« Dann runzelte er die Stirn und beugte sich vor.
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