Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
Der Gedanke bereitete ihr Übelkeit und machte sie wütend. Am liebsten hätte sie ihren Bruder gepackt und so lange geschüttelt, bis er auch den Rest der Intrige preisgab, aber sie wusste, dass dies nicht möglich war.
»Sie müssen Tessa Gray sein«, sagte plötzlich eine sanfte Stimme. »Das wahrhaftige Ebenbild Ihrer Mutter.«
Tessa fuhr erschreckt hoch. Neben ihr stand eine große, schlanke Frau mit langen lavendelblauen Haaren und hellblauer Haut. Sie trug ein weites, locker schwingendes Gewand aus hauchdünner Seide, das ihr bis auf die Füße fiel, und zwischen ihren nackten Zehen schimmerten dunkelblaue, spinnwebartige Geflechte. Von plötzlicher Panik ergriffen, fasste Tessa sich ans Gesicht - fiel ihre Tarnung etwa von ihr ab?
Doch die blaue Frau lachte. »Es lag nicht in meiner Absicht, Ihnen einen Schrecken einzujagen, meine Kleine. Keine Sorge - Ihr Trugbild ist noch intakt. Es ist nur so, dass ich und meinesgleichen durch derartige Illusionen hindurchsehen können. Denn all das hier ...« - sie zeigte vage auf Tessas blondes Haar, das weiße Kleid und die Perlen - »... ist wie der Dunst einer Wolke und Sie sind der dahinterliegende Himmel. Haben Sie gewusst, dass Ihre Mutter dieselbe Augenfarbe besaß wie Sie - manchmal Grau und bei anderen Gelegenheiten Blau?«
Endlich fand Tessa ihre Stimme wieder: »Wer sind Sie?«
»Ach, unsere Art ... wir geben unseren Namen nicht gern preis, aber Sie dürfen mich nennen, wie Sie wollen. Erfinden Sie doch einfach einen hübschen Namen für mich. Ihre Mutter hat mich übrigens immer Hyacinth gerufen.«
»Die Blume mit den blauen Blüten«, murmelte Tessa und fragte dann: »Wieso haben Sie meine Mutter gekannt? Sie sehen nicht älter aus als ich ...«
»Nach unserer Jugendzeit können ich und meinesgleichen weder altern noch sterben. Dasselbe gilt für Sie, Sie Glückliche! Ich hoffe, Sie wissen den Dienst, den man Ihnen erwiesen hat, auch zu schätzen.«
Verwirrt schüttelte Tessa den Kopf. »Dienst? Welchen Dienst? Sprechen Sie von Mortmain? Wissen Sie, was ich bin? «
»Wissen Sie, was ich bin?«
Tessa dachte an den Codex. »Eine Elfe?«, mutmaßte sie.
»Und wissen Sie auch, was ein Wechselbalg ist?«
Erneut schüttelte Tessa den Kopf.
»Manchmal«, setzte Hyacinth an und senkte ihre Stimme zu einem vertraulichen Flüstern, »wenn unser Feenblut an Kraft verloren hat, schleichen wir uns heimlich in das Haus einer Menschenfamilie, nehmen das beste, hübscheste und molligste Kind aus der Wiege und ersetzen es schnell wie der Wind durch einen unserer schwächelnden Säuglinge. Und während das Menschenkind in unseren Gefilden wächst und gedeiht, sieht sich die Menschenfamilie mit einer kränklichen Kreatur beschwert, die sich vor Eisen fürchtet. Dagegen wird unsere Blutlinie gestärkt ...«
»Wozu die Mühe?«, fragte Tessa fordernd. »Warum stehlen Sie das Menschenkind nicht einfach und lassen die Wiege leer?«
Hyacinths dunkelblaue Augen weiteten sich verwundert. »Nun ja, das wäre schließlich nicht fair «, erklärte sie. »Außerdem würde dies das Misstrauen der Irdischen wecken. Sie mögen zwar dumm sein, aber dennoch gibt es viele von ihnen. Es empfiehlt sich nicht, ihrem Zorn zu erregen. Denn dann kommen sie mit Eisen und Fackeln«, fügte sie schaudernd hinzu.
»Einen Moment mal«, warf Tessa ein. »Wollen Sie mir damit sagen, dass ich ein Wechselbalg bin?«
Hyacinth lachte glockenhell. »Natürlich nicht! Welch eine absurde Vorstellung!« Während sie erneut auflachte, drückte sie die Hände an ihr Herz und Tessa sah, dass auch ihre Finger durch feines blaues Gewebe miteinander verbunden waren. Plötzlich hielt Hyacinth jedoch inne und ein amüsiertes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, sodass ihre glänzenden Zähne zum Vorschein kamen. »Dort drüben steht ein sehr gut aussehender junger Mann«, bemerkte sie. »So attraktiv wie ein Elbenfürst! Ich sollte Sie jetzt wohl besser wieder allein lassen.« Dann zwinkerte sie ihr noch einmal zu und tauchte wieder in der Menge unter, bevor Tessa auch nur protestieren konnte.
Erschüttert drehte sie sich um, in der Erwartung, dass es sich bei dem »sehr gut aussehenden jungen Mann« um Nate handelte - stattdessen entdeckte sie Will, der neben ihr an der Wand lehnte.
In dem Moment, in dem sich ihre Blicke trafen, wandte er sich leicht zur Seite und studierte eingehend die Tanzfläche. »Was hat diese Elfe von dir gewollt?«
»Ich weiß es nicht«, erklärte Tessa aufgebracht.
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