Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
machte er auf dem Absatz kehrt, eilte zu Tessa und legte ihr sanft eine Hand auf den Rücken. »Tessa?«
»Mir geht es gut.« Tessa war dankbar für das steinerne Geländer unter ihren Händen, dessen Festigkeit und raue Härte ihr ein beruhigendes Gefühl der Sicherheit schenkten. Auch die kühle Luft half, ihr Schwindelgefühl zu vertreiben. Als sie an sich hinunterblickte, erkannte sie, dass sie sich vollständig zurückverwandelt hatte - sie war wieder sie selbst. Das weiße Kleid war nun mehrere Zentimeter zu kurz und die Schnürung ihres Oberteils so eng, dass ihr Dekolleté nach oben gepresst wurde und aus dem tiefen Ausschnitt zu quellen drohte. Tessa wusste zwar, dass manche Damen sich besonders eng schnüren ließen, um genau diesen Effekt zu erzielen, aber es traf sie doch wie ein Schock, so viel ihrer eigenen Haut entblößt zu sehen.
Verlegen warf sie Will einen Seitenblick zu, dankbar für die kühle Luft, die ihre Wangen daran hinderte, flammend rot anzulaufen. »Ich ... ich weiß nicht, was geschehen ist. So etwas ist mir noch nicht passiert ... ich meine, ich habe mich nie zuvor unbemerkt zurückverwandelt. Es muss an der Überraschung und dem Schreck gelegen haben. Die beiden sind vermählt, hast du das gewusst? Nate und Jessamine. Vermählt! Dabei war Nate doch nie der Typ Mann, der bereitwillig den Bund der Ehe eingegangen wäre. Und er liebt sie auch gar nicht. Das spüre ich genau. Nate liebt niemanden außer sich selbst. Das war schon immer so.«
»Tess«, sagte Will erneut, dieses Mal viel sanfter als vorher. Auch er lehnte an der Balustrade, das Gesicht Tessa zugewandt. Nur ein kleiner Schritt trennte sie voneinander. Über ihnen schwebte der Mond durch die Wolken wie ein weißes Segelboot auf einem ruhigen tiefdunklen Meer.
Hastig schloss Tessa den Mund und ihr war peinlich bewusst, dass sie zusammenhanglos vor sich hin geplappert hatte. »Es tut mir leid«, sagte sie leise und schaute weg.
Fast zögernd legte Will ihr eine Hand auf die Wange und drehte ihr Gesicht behutsam zu sich. Er hatte seine Handschuhe abgestreift und seine langen Finger berührten ihre Haut. »Es gibt nichts, was dir leidtun müsste«, murmelte er. »Du warst dort drinnen einfach brillant, Tessa. Keine Sekunde nicht in deinem Element.«
Tessa spürte, wie ihre Wange unter seinen kühlen Fingern zu glühen begann. War dies wahrhaftig Will, der da zu ihr sprach? Will, der sich auf dem Dach des Instituts so abfällig geäußert hatte, als wäre sie Abschaum?
»Du hast deinen Bruder einmal wirklich geliebt, nicht wahr? Ich habe dein Gesicht gesehen, als er mit dir redete, und ich hätte ihm am liebsten den Hals umgedreht - dafür, dass er dir das Herz gebrochen hat.«
Du hast mir das Herz gebrochen, wollte Tessa erwidern, doch stattdessen erklärte sie: »Manchmal fehlt er mir sehr - so wie dir deine Schwester fehlt. Obwohl ich genau weiß, was und wie Nate ist, vermisse ich doch den Bruder, den ich einst zu haben glaubte. Er ist alles, was mir von meiner Familie geblieben ist.«
»Das Institut ist jetzt deine Familie.« Wills Stimme klang unfassbar sanft.
Verwundert warf Tessa ihm einen Blick zu. Sanftheit zählte nicht zu den Dingen, die ihr im Zusammenhang mit Will jemals in den Sinn gekommen wären. Doch nun konnte sie sie spüren - in der Berührung seiner Hand an ihrer Wange, im weichen Ton seiner Stimme und im Ausdruck seiner Augen. Genau so hatte sie es sich erhofft. Sie hatte immer davon geträumt, dass ein Junge sie einmal auf diese Weise anschauen würde. Allerdings hatte sie selbst in ihrer Fantasie niemanden gesehen, der so wunderschön war wie Will. Im Schein des Monds wirkte sein geschwungener, voller Mund unschuldig und perfekt und seine Augen hinter der Maske schimmerten nahezu schwarz.
»Wir sollten besser wieder hineingehen«, brachte Tessa leise, fast im Flüsterton hervor. Dabei wollte sie gar nicht in den Ballsaal zurückkehren - sie wollte hier draußen bleiben, zusammen mit Will, der ihr quälend nah war und beinahe gegen sie lehnte. Sie konnte die Wärme spüren, die von seinem Körper ausging. Seine schwarzen Haare fielen über den Rand der Maske, verfingen sich in seinen langen Wimpern. »Uns bleibt nicht viel Zeit ...«, murmelte sie, trat einen Schritt vor - und stolperte förmlich gegen Will, der sie auffing. Einen Moment lang erstarrte sie; dann legten sich ihre Arme um seinen Hals und ihre Finger verschränkten sich wie von selbst in seinem Nacken. Ihr Gesicht lehnte an seiner
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