Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
nicht in eine Falle tappen.«
»Funktioniert Henrys Erfindung denn überhaupt?«, fragte Tessa skeptisch und schürzte ihre Röcke, damit der Saum nicht durch den Matsch schleifte, während sie der Straße folgten. Als Tessa sich kurz umschaute, sah sie, dass der Kutscher offenbar bereits ein Nickerchen machte, denn er lehnte reglos gegen den Sitz, den Hut tief in die Stirn gezogen. Die gesamte Landschaft um sie herum erschien Tessa wie ein Flickenteppich aus grauen und grünen Tönen: steil aufragende Hügel, mit grauem Schiefer durchsetzt; flaches, von Schafen kurz gehaltenes Gras; und hier und dort ein Hain mit knorrigen, verwunschenen Bäumen. Das Ganze strahlte zwar eine herbe Schönheit aus, aber Tessa schüttelte sich bei dem Gedanken, hier leben zu müssen, so weit von jeglicher Zivilisation entfernt.
Jem, der sie schaudern sah, schenkte ihr ein schiefes Lächeln. »Großstadtpflanze.«
Tessa lachte. »Ich habe in der Tat gerade darüber nachgedacht, wie es sein muss, an solch einem Ort aufzuwachsen, so weit entfernt von anderen Menschen.«
»Die Region, in der ich aufgewachsen bin, unterscheidet sich nicht sehr von dieser Gegend hier«, sagte Will unerwartet und überraschte sie damit beide. »Und es ist gar nicht so einsam, wie man meinen sollte. Hier draußen auf dem Land stattet man einander regelmäßig Besuche ab, das kann ich euch versichern. Die Leute müssen lediglich größere Strecken zurücklegen als in London. Und wenn sie sich schon einmal aufgemacht haben, dann bleiben sie meist auch länger. Denn warum sollte man eine solch beschwerliche Reise nur für ein oder zwei Nächte auf sich nehmen? Zu Hause haben wir oft Gäste gehabt, die wochenlang geblieben sind.«
Mit großen Augen starrte Tessa Will stumm an. Es kam so selten vor, dass er etwas von seinem früheren Leben preisgab, dass sie ihn gelegentlich für einen Mann ohne Vergangenheit hielt.
Auch Jem schaute seinen Freund einen Moment verwundert an, fing sich dann aber wieder. »Ich teile Tessas Ansicht. Da ich mein ganzes Leben lang immer nur in Großstädten verbracht habe, wüsste ich gar nicht, wie ich nachts schlafen sollte, ohne die Gewissheit, von tausend anderen schlafenden und träumenden Menschenseelen umgeben zu sein.«
»Ja und umgeben von dem ganzen Dreck und der Enge«, konterte Will. »Nach meiner Ankunft in London hat mich die ständige Anwesenheit derart vieler Menschen so mürbe gemacht, dass ich mich nur mit größter Mühe zurückhalten konnte, den nächstbesten, der das Pech hatte, mir über den Weg zu laufen, am Kragen zu packen und ihm gegenüber handgreiflich zu werden.«
»Manche würden behaupten, dass du dieses Problem noch immer hast«, bemerkte Tessa spitz.
Doch Will lachte nur - ein kurzes, fast überrascht klingendes Lachen - und hielt dann inne, um einen Blick auf Ravenscar Manor zu werfen, das vor ihnen aufgetaucht war.
Auch Jem stieß einen leisen, anerkennenden Pfiff aus, während Tessa nun verstand, warum sie zuvor nur die Schornsteine hatte sehen können: Das Anwesen befand sich in der Talmitte dreier Hügel. Die steil aufragenden Hänge schienen das Gebäude wie mit einer riesigen Hand zu umschließen. Tessa, Jem und Will standen am Rand eines jener Hügel und blickten auf das Herrenhaus hinab - ein weitläufiger, imposanter Bau aus grauem Mauerwerk, das den Eindruck erweckte, als stünde es schon seit Jahrhunderten an diesem Ort. Eine breite, kreisförmige Auffahrt führte zu einer gewaltigen Eingangstür. Aber nichts deutete darauf hin, dass das Anwesen verlassen war oder vernachlässigt wurde - weder die Auffahrt noch die Wege zu den Nebengebäuden des Hauses waren von Unkraut überwuchert und den Kreuzfenstern fehlte keine einzige Glasscheibe.
»Hier wohnt jemand«, stellte Jem fest und sprach damit Tessas Gedanken laut aus. Dann setzte er sich in Bewegung und stieg langsam den Hügel hinab; das Gras wuchs hier sehr hoch und reichte ihm fast bis zur Hüfte. »Vielleicht können wir ...« Im nächsten Moment verstummte er jedoch abrupt, als das Rattern von Rädern näher kam.
Einen Augenblick lang dachte Tessa, ihre eigene Equipage wäre ihnen gefolgt. Doch dann erkannte sie, dass es sich um ein vollkommen anderes Fuhrwerk handelte: eine robust wirkende Kutsche, die nun durch das Tor bog und auf das Herrenhaus zufuhr.
Sofort duckte Jem sich in das hohe Gras und Will und Tessa folgten seinem Beispiel. Gemeinsam beobachteten sie, wie der Zweispänner vor dem Haus anhielt und der Kutscher
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