Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
beschwerlich den Hügel hinaufkämpfte. Wegen des Fechtunterrichts in der leichten Trainingskleidung verstand sie nun, warum Männer so viel schneller laufen und sich müheloser bewegen konnten. Dagegen wog der Stoff ihres Kleides bestimmt eine halbe Tonne; die Absätze ihrer Stiefel verfingen sich andauernd an irgendwelchen Steinen und das Korsett schnürte ihr derart die Taille ein, dass sie nur kurzatmig nach Luft schnappen konnte.
Als sie endlich die Hügelkuppe erreichte, sah sie gerade noch, wie Jem weit vor ihr in einem dunklen Wäldchen verschwand. Hektisch schaute Tessa sich um, aber sie konnte weder die Straße noch Starkweathers Kutsche ausmachen. Mit wild klopfendem Herzen nahm sie die Verfolgung auf.
Das Waldstück war breiter als erwartet und erstreckte sich entlang der Kuppe. Als Tessa zwischen den Bäumen eintauchte, schwand das Licht und dicke, verschlungene Äste über ihr versperrten den Blick auf die fahle Sonne. Einen Moment lang fühlte sie sich an Schneewittchens Flucht in den tiefen Wald erinnert und schaute sich ratlos um, auf der Suche nach Anzeichen dafür, welche Richtung Jem und Will wohl eingeschlagen hatten - abgebrochene Zweige, niedergetrampelte Blätter. Stattdessen sah sie aus dem Augenwinkel plötzlich ein metallisches Schimmern, als der Klockwerk-Automat aus dem Schatten zweier Bäume angestürmt kam und sich auf sie stürzte.
Entsetzt kreischte Tessa auf, machte einen Satz und stolperte dabei prompt über ihre Röcke, sodass sie rückwärts taumelte und mit einem schmerzhaften Aufprall auf dem matschigen Boden landete. Mit einem Ruck streckte die Kreatur einen der langen, insektenartigen Arme nach ihr aus, doch sie rollte sich rasch zur Seite und der Metallarm bohrte sich in die feuchte Erde neben ihr. Verzweifelt schaute Tessa sich um: Nicht weit von ihr lag ein abgebrochener Ast. Sie streckte ihre Finger aus, schloss sie um das raue Holz und hob den Knüppel genau in dem Moment, in dem der Klockwerk-Automat seinen anderen Arm auf sie herabsausen ließ. Blitzschnell riss Tessa den Ast vor ihren Körper, zwischen sich und die Kreatur, und konzentrierte sich darauf, was sie während der Trainingsstunden mit Gabriel übers Parieren und Abwehren gelernt hatte. Aber ihre »Waffe« bestand nur aus morschem Holz, das der Greifarm des Automaten mühelos in der Mitte durchtrennte. Dann öffnete sich das Ende des Arms zu einer vielgliedrigen Metallklaue, die nach Tessas Kehle griff. Doch noch bevor einer der Metallfinger ihre Haut berühren konnte, verspürte Tessa plötzlich ein heftiges Flattern an ihrem Schlüsselbein. Ihr Engel. Einen Augenblick lang lag sie wie erstarrt da, während der Automat seine Klaue zurückriss. Dunkle Flüssigkeit strömte aus einem seiner »Finger«. Einen Sekundenbruchteil später stieß er ein hohes Pfeifen aus und fiel rückwärts, wobei ein ganzer Schwall dunkler Brühe aus seiner Brust schoss.
Tessa setzte sich auf, starrte auf das tiefe Loch im Rumpf des Automaten und schaute auf.
Will stand mit erhobenem Schwert da, das Heft mit schwarzer Flüssigkeit verschmiert. Er hatte seinen Hut verloren und sein dichtes dunkles Haar war zerzaust; Blätter und Grashalme hatten sich darin verfangen. Jem befand sich an seiner Seite; das Licht seines Elbensteins strahlte hell zwischen seinen Fingern hindurch. Während Tessa atemlos zusah, holte Will erneut mit dem Schwert aus und durchtrennte den Klockwerk-Automaten fast vollständig in der Mitte. Die Metallteile prasselten auf den matschigen Boden und seine Innereien kamen zum Vorschein - ein unansehnliches und beunruhigend lebendig wirkendes Durcheinander aus Schläuchen und Kabeln.
Jem schaute auf und sein Blick traf sich mit Tessas. Seine Augen funkelten silbern wie helle Spiegel.
Dagegen schien Will - ungeachtet der Tatsache, dass er ihr das Leben gerettet hatte - Tessa gar nicht wahrzunehmen; er holte mit dem Fuß aus und versetzte dem mechanischen Ding einen bösen Tritt in die Seite, woraufhin ein dumpfes, metallisches Dröhnen erklang. »Los, verrate uns, was du hier zu suchen hast!«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Warum bist du uns gefolgt?«
Langsam öffnete sich der rasierklingenartige Mund des Automaten und seine Stimme knirschte und leierte wie ein defektes Räderwerk. »Ich ... bin ... eine ... Warnung ... vom Magister.«
»Eine Warnung? Für wen? Für die Familie in diesem Herrenhaus? Los, sag schon!« Will sah aus, als wollte er die Kreatur erneut
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