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Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser

Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser

Titel: Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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Ohrringe aus farbigen Korallen für Charlotte, ein aufwendig geschmiedetes Messinstrument, um sich nachts an den Sternen zu orientieren, für Humboldt, je einen Jagdbogen und einen Dolch für Boswell und Pepper sowie ein wundervoll geflochtenes Binsenkörbchen für Wilma. Für Oskar hatte sich Yupan etwas Besonderes ausgedacht: Er erhielt das Gewand eines Meisterdiebes, einer Kaste, die in Xi’mal in hohem Ansehen stand. Es bestand aus einer ledernen Hose und einem langen Oberteil mit Kapuze und Schuhen. An bestimmten Stellen war es mit Teilen von Insektenpanzern besetzt, die imstande waren, sich der Farbe des Untergrundes anzupassen. Ein perfekter Chamäleonanzug für jemanden, der ungesehen irgendwo rein- und rausspazieren wollte.
    Oskar konnte sein Glück kaum fassen und schlüpfte gleich in die neuen Sachen hinein. Sie passten wie angegossen. Es waren wahrhaft königliche Geschenke und es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich alle angemessen dafür bedankt hatten.
    Dann kam der Moment des Abschieds. Unter Yupans Segenswünschen stiegen die Abenteurer an Bord der Pachacutec und warfen die Motoren an.
    »Lebt wohl, meine Freunde!«, rief der Hohepriester und breitete seine Schwingen aus. »Möge Wiraqucha euch gewogen sein und eine gute Heimreise bescheren.
    Lebt wohl.« Dann nahm er zum letzten Mal das Linguaphon und übergab es Humboldt.
    »Danke, Yupan und Huascar«, antwortete Humboldt. »Möge euer Volk ewig bestehen und möget ihr ewig auf dem Atem des Windes reisen.«
    Dann öffnete er die Ventile. Die Motoren erzitterten. Majestätisch erhob sich das Schiff in den grauen, von Regenwolken durchsetzten Himmel. Oskar und Charlotte hingen an der Reling, sahen nach unten und winkten. Immer kleiner wurde die Stadt unter ihnen, bis sie schließlich zwischen den Nebelschleiern verschwand.
    Immer höher stieg das Schiff und drehte dann in Richtung Osten ab. Die Abenteurer standen nahe beisammen und blickten schweigend auf die Andengipfel, die sich vor ihnen erhoben. Niemandem war nach Reden zumute. Oskar hatte Abschiede schon immer gehasst, und dieser hier würde für immer sein, das spürte er.
    Humboldt blickte nachdenklich zu einer Kette mächtiger Vulkane hinüber, deren schneebedeckte Gipfel im Schatten der darüberhängenden Wolkenschicht schlummerten. Eliza ergriff seine Hand. »Na?«, sagte sie. »Was geht dir gerade durch den Kopf?«
    Humboldt deutete nach Süden. »Seht ihr den Berg dort drüben?«
    »Den mit der Kegelform?«, fragte Charlotte. »Ja, den sehen wir.«
    »Das ist der Chimborasso. Ein riesiger Schildvulkan. Mein Vater hat einst versucht, ihn zu ersteigen. Er ist jedoch an dessen mächtigen Flanken gescheitert. Es war einer der wenigen Fehlschläge seiner Karriere. Er, dem sonst niemals etwas misslang, scheiterte an einem einfachen Berg, könnt ihr euch das vorstellen?«
    »Schwer«, sagte Oskar. »Ich habe einige seiner Reiseberichte gelesen. Sie lasen sich wie Abenteuergeschichten.«
    Humboldt nickte. »Wenn man seine Tagebücher liest, weiß man, dass er sich von diesem Fehlschlag nie richtig erholt hat.« Er schüttelte den Kopf. »Noch viel tragischer aber ist, dass damit seine Reise in Peru zu Ende war. Die beiden größten Wunder – die Nazca-Linien und die Stadt in den Wolken – hat er nie zu Gesicht bekommen.«
    »Wie hätte er sie auch finden sollen?«, sagte Oskar. »Er hätte sich schon in die Lüfte erheben müssen, um sie zu sehen.«
    »Was er wohl empfinden würde, wenn er uns jetzt hier so sähe?«
    »Ich bin sicher, er wäre stolz auf uns.« Eliza legte ihre Hand auf Humboldts Schulter. »Er wäre stolz auf dich, dass du sein Lebenswerk fortführst.«
    »Immer war er mir einen Schritt voraus«, sagte der Forscher. »Bei allem, was ich tat, stand ich stets in seinem Schatten. Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, mich jemals von ihm lösen zu können.«
    »Das ist jetzt vorbei«, flüsterte Eliza und hielt seine Hand. »Die Schatten der Vergangenheit sind unten am Boden geblieben. Jetzt beginnt eine neue Zeit.«
    Humboldt drehte sich zu ihr und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Charlotte und Oskar warfen sich einen vielsagenden Blick zu.
    In diesem Moment riss die Wolkendecke auf. Das Schiff nahm Fahrt auf und flog hinaus in den blauen, sonnendurchfluteten Vormittagshimmel.

54
     
    Einen Monat später …
     
    Berlin war in dichte Rauchwolken gehüllt. Die Oranienburger Vorstadt trug ihren Spitznamen Feuerland nicht zu Unrecht. Nirgendwo in Berlin gab es so viele

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