Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser
gewagt, sie danach zu fragen, und die Ungewissheit plagte ihn sehr. Es war wie ein unausgesprochenes Geheimnis. Eine stumme Vereinbarung, dass es besser wäre, dieses Thema nicht anzuschneiden.
Es war später Nachmittag, als Oskar und Charlotte von einem kleinen Spaziergang zurückkehrten und an der Aussichtsplattform vor den Häusern der Heilung haltmachten. Der Blick war wie immer atemberaubend. Die Sonne war gerade hinter den Wolken versunken und erschuf Paläste aus bernsteinfarbenem Licht am Horizont. Die Luft war kühl und Oskar verspürte einen Anflug von Heimweh.
»Bist du eigentlich enttäuscht, dass du nicht die Königin bist, von der das Gedicht handelt?«, fragte er.
»Machst du Witze?« Charlotte sah ihn verwundert an. »Ich war nie in meinem Leben erleichterter. Um ehrlich zu sein, diese Prophezeiung hatte mir beinahe den ganzen Spaß an der Reise genommen. Es gab Augenblicke, da habe ich mich verflucht, weil ich überhaupt mitgekommen war.«
»Das hast du aber gut vor den anderen verborgen.«
»Na ja, ein bisschen was habe ich wohl auch von meinem Onkel.«
»Ich hätte es schade gefunden, wenn du daheim geblieben wärst«, sagte Oskar.
»Ich habe versucht, euch nicht mit meinen Sorgen zu belasten. Es gab so viel zu tun und wir brauchten alle einen klaren Kopf. Da hätte das Gejammer eines kleinen Mädchens nur gestört.« Sie grinste. »Tatsache ist, ich habe mich nie als etwas Besonderes gefühlt, geschweige denn wie eine Königin.«
»Würde mir wahrscheinlich genauso gehen«, sagte Oskar. »So leid es mir um Valkrys tut, ich bin froh, dass es sie erwischt hat und nicht dich.« Er versuchte, nicht rot zu werden. »Aber auch wenn du keine Königin bist, etwas Besonderes bist du trotzdem.«
»Findest du?« Sie blickte an sich hinab. »Ich fand immer, dass ich krumme Beine und große Ohren habe.«
»Ich finde, dass du sehr schön bist.« Großer Gott, was redete er da nur? Seine Wangen glühten. Er konnte förmlich spüren, wie seine Ohren rot wurden.
»Ehrlich?« Sie strahlte. »Das ist das netteste Kompliment, das ich je von jemandem bekommen habe.«
Er räusperte sich. Seine Stimme klang auf einmal fürchterlich hoch und dünn. »Außerdem finde ich, dass du ziemlich clever bist«, sagte er. »Manchmal wüsste ich gerne genauso viel wie du. Dann aber denke ich mir, dass es vielen Dingen ihr Geheimnis nimmt, wenn man zu viel über sie weiß. Verstehst du, was ich meine?«
Sie blickte ihn an, als hätte sie keinen Schimmer, wovon er sprach. »Nein«, sagte sie.
Er versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Hatte er sich doch in ihr geirrt? War sie ihrem Onkel vielleicht doch viel ähnlicher, als er vermutet hatte? Er zuckte verletzt mit den Schultern, als Charlotte plötzlich laut loslachte. »Erwischt«, sagte sie. »Natürlich weiß ich, was du meinst. Gerade hier, an diesem Ort, kann man es fühlen, das Geheimnis.«
Er warf ihr einen schiefen Blick zu. »Du hast einen ziemlich schrägen Humor, hat dir das schon mal jemand gesagt?«
Sie tat entrüstet. »Was erdreisten Sie sich, junger Mann!«
»Doch, doch«, sagte Oskar. »Aber wenigstens hast du Humor. Und das ist die Hauptsache. Woran wir noch arbeiten müssen, ist deine Hautfarbe. Du bist immer noch ein wenig blass. Du solltest dich nicht so viel hinter deinen Büchern vergraben, sondern ab und zu mal an die frische Luft gehen. Ich biete mich gerne als Führer an.«
Sie gab ihm einen scherzhaften Schlag auf den Arm. »Lass du dich mal mit Gift vollpumpen und einspinnen. Ich wette, dann würdest du auch nicht mehr so gut aussehen wie jetzt.« Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.
Oskar fühlte, wie er einige Zentimeter größer wurde. Hatte sie tatsächlich gesagt, er würde gut aussehen?
Auf einmal hörte er Stimmen hinter sich. Humboldt erschien in Begleitung von Yupan und einer Delegation von ehrwürdig dreinschauenden Indianern. Im Schlepptau befanden sich auch Pepper und Boswell, beide in der traditionellen Tracht des Himmelsvolkes gekleidet und verfolgt von einer Schar junger, gut aussehender Frauen. Sie steckten unablässig ihre Köpfe zusammen und kicherten dabei. Oskar musste sich ein Grinsen verkneifen. Die beiden schienen sich wirklich gut eingelebt zu haben. Auch Eliza streckte ihren Kopf aus einem der Häuser. Die Hände an einem weißen Leinentuch abwischend, trat sie in Begleitung einer kleinen buckligen Heilerin aus dem Haus und ging auf die Delegation zu. »Da bist du ja endlich!«,
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