Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser
Persönlichkeit geraten zu sein. Die Wände waren mit dunklem Holz getäfelt und in regelmäßigen Abständen waren Kerzenhalter befestigt. Zwei mächtige geschnitzte Holzsäulen trugen eine gewölbte Decke, die mindestens vier Meter hoch war. Auf ihr waren Naturszenen zu sehen. Berge, Wasserfälle, dichter Dschungel und weite Wüsten. Bilder, wie er sie sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorzustellen gewagt hatte.
An den Wänden befanden sich präparierte Tierköpfe aus aller Herren Länder. Elefanten, Nashörner und Tiger, aber auch kleinere Tiere wie Antilopen, Schakale und Luchse. Viele kannte er aus dem Tierpark, manche waren ihm völlig unbekannt. Staunend und mit offenem Mund stand er einfach da und blickte nach oben. Offenbar hatte der Herr dieses Hauses die ganze Welt bereist. Vor seinem geistigen Auge erschien die Person des Allan Quatermain, des Bezwingers von Afrika, des Entdeckers von König Salomons Minen. Konnte es sein, dass ihn das Schicksal direkt in die Arme des Abenteuers geführt hatte?
Oskar riss sich von dem Anblick los. Er durfte jetzt nicht unvorsichtig werden. Er war betäubt worden, entführt und gefesselt, und solange er dafür keine einleuchtende Erklärung erhalten hatte, lautete sein oberstes Ziel Flucht.
Eine breite Eichentreppe führte in weitem Bogen nach oben. Eliza winkte ihm zu. »Komm, mein Junge. Du solltest deinen Gastgeber nicht warten lassen.« Sie nahm seine Hand und geleitete ihn in den ersten Stock. Dort, am Ende eines langen Flurs, blieben sie stehen. Sie klopfte an eine Tür, dann trat sie, ohne eine Antwort von innen abzuwarten, ein.
Der Raum war groß und warm. Im Kamin prasselte ein Feuer. Durch die Fenster konnte man einen Blick auf Parkanlagen erhaschen. Es war Abend und hinter den Bäumen versank feuerrot die Sonne.
Hinter einem riesigen Schreibtisch aus dunklem Kirschholz saß ein Mann, der in ein dickes, ledergebundenes Buch vertieft war. Oskar hielt den Atem an. Die wasserblauen Augen, die buschigen Brauen und die Brille gehörten unverkennbar seinem Entführer. Trotzdem wirkte er verändert. War er bei ihrer ersten Begegnung noch in düsteres Schwarz gehüllt gewesen, hatte er sich nun für eine Kombination freundlicherer Farben entschieden. Er trug eine knielange, reich bestickte Jacke aus weinrotem Samt, dazu bequeme weite Stoffhosen und hellbraune Wildlederschuhe. Seine Haare hingen in einem Zopf über der linken Schulter. Beinahe wie bei einem Chinesen.
Als sie eintraten, hob der Mann den Kopf. Mit einem Knall schlug er das Buch zu und schob es auf die Seite. »Komm rein«, sagte er mit einer Stimme, die zwar immer noch barsch klang, aber deutlich freundlicher als noch vorhin auf der Straße. »Ich sehe, du bist wieder wohlauf? Gut so.« Er räusperte sich und ging zu einem Schrank hinüber, in dem etliche Flaschen aufgereiht standen. »Was möchtest du? Wasser? Tee? Vielleicht einen Branntwein?« Er blickte kurz zu Eliza hinüber, die entschieden den Kopf schüttelte. »Nein, keinen Branntwein. Milch. Wie wäre es mit einem Glas Milch?«
Oskar setzte ein Pokergesicht auf. Die ganze Situation war äußerst merkwürdig. Eine seltsame Mischung aus Furcht und Faszination befiel ihn. Es fiel ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen.
»Gar nichts? Was dagegen, wenn ich mir einen genehmige?« Der Mann nahm sich ein Glas und schüttete etwas von einer bräunlichen Flüssigkeit hinein, vermutlich etwas Hochprozentiges. Er nahm einen Schluck. »Setz dich«, sagte er und deutete auf ein breites Sofa gegenüber dem Tisch. Oskar blickte argwöhnisch zu Eliza. Als diese ihm zu verstehen gab, dass es in Ordnung sei, ließ er sich steif auf den weichen Kissen nieder. Er versank beinahe darin.
»Schon besser«, sagte der Mann. »Du fragst dich sicher, wo du bist und was ich von dir will, habe ich recht? Du sollst es erfahren, doch zunächst mal möchte ich damit beginnen, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist Humboldt. Carl Friedrich von Humboldt. Und wie heißt du?«
»Oskar Wegener.«
Sein Gastgeber deutete ein Nicken an. »Freut mich, dich kennenzulernen, mein Junge. Willkommen in meinem Heim.«
Oskar setzte einen skeptischen Blick auf. Wieso war der plötzlich so freundlich? »Ist Ihr Name wirklich Humboldt? So wie der berühmte Entdecker?«
»Du sprichst vermutlich von Alexander von Humboldt, meinem Vater.« Er warf Oskar einen kurzen Blick über den Rand seiner Brille zu. »Genau wie er darf ich mich in aller Bescheidenheit einen Naturforscher
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