Chronos
aber durchaus bedeutsam, wenn man ihn an einem Stück durchlebte. Er war im August des Jahres 1964 an diesem Außenposten angekommen und hatte seitdem kein längeres Gespräch mehr geführt, bis auf das notwendige Hallo und Danke zu Ladenverkäufern und Lieferanten. Gelegentlich zog ein neuer Mieter in das Haus unten an der Straße und stieg den lang gestreckten Hügel herauf, um sich vorzustellen. Der Zeitreisende reagierte immer freundlich ... aber in seinem Verhalten lag irgendetwas Seltsames, das die Nachbarn von einem zweiten Besuch abhielt. Er wirkte wie ein durchschnittlicher junger Mann mit rundem, freundlichen Gesicht – nicht so jung, wie er aussah, natürlich nicht, ganz im Gegenteil –, der lächelte und eine Levi's und ein kariertes Hemd trug, kurz geschnittene Haare hatte und, wenn man Fantasie besaß, einen an etwas äußerlich Angenehmes, aber gleichzeitig irgendwie Beunruhigendes erinnerte. An einen Wassertümpel auf einer Waldlichtung zum Beispiel, aus dem jeden Moment etwas Altes und Fremdartiges aufsteigen konnte.
Er hatte die ganze Zeit allein gelebt. Für Ben war das nicht besonders schlimm. Er war wegen seiner Vorliebe zum Einzelgängertum ausgesucht worden, und er verfügte über geheime Hilfsmittel, die der jeweils gegenwärtigen Technologie weit voraus waren: ein weitreichendes Gedächtnis, taktile Erinnerung, ein ganzes Arsenal winziger kybernetischer Helfer. Er war nicht einsam. Nichtsdestotrotz war er, in einem sehr realen Sinn, allein. Er war ein aufmerksamer und pflichtbewusster Wächter. Aber die Ruhe des Hauses und des gesamten Anwesens verführten ihn manchmal dazu, in seiner Wachsamkeit nachzulassen. Es kam vor, dass er sich beim Tagträumen ertappte.
Zum Beispiel jetzt. Während er auf das Unkrautdickicht blickte, stellte er sich einen Garten vor. Einen Garten zu bearbeiten ist eine Art Zeitreise, dachte er. Man investiert Arbeit in die Erwartung einer veränderten Zukunft. In nackte Erde, die Blumen hervorbringt. Ein raffiniertes Werk von Zeit und Wasser und Stickstoff und pflegenden Händen. Diese Samen enthielten ihre eigene Blüte.
Er betrachtete das Päckchen in seiner Hand. Himmelblau lautete die Aufschrift. Das Bild war übertrieben bunt, ein Wirbel in Technicolor, türkisblau und purpurrot. Als Pflanzenart war die Purpurwinde schon Jahre vor seiner Geburt vom Aussterben bedroht gewesen. Er stellte sich vor, wie diese Blumen sich an den alten, duftenden Kiefernlatten des Zauns (die Kiefer: ein weiteres Opfer) emporrankten. Er stellte sich ihre Blüte im sommerlichen Sonnenschein vor. Er würde im letzten Licht eines heißen, trockenen Tages auf die Gartenveranda hinaustreten und diesen hellblauen Filigranschmuck bewundern.
In der Zukunft.
Er starrte auf das Päckchen – hing seinen idyllischen Träumen nach –, als der Räuber durch die Küchentür brach.
Er hatte eine Warnung erhalten, unterschwellig und ganz kurz nur, ausreichend, sodass er sich zum Haus umwandte. Er spürte es als eine Unruhe unter seinen kybernetischen Helfern und dann als ihr abruptes Schweigen.
Der Räuber trug etwas, das Ben als militärische Rüstung des späten einundzwanzigsten Jahrhunderts identifizierte. Es war eine Rüstung, die tief im Körper wurzelte, eine prothetische Rüstung, die ins Nervensystem eingebunden war. Der Räuber wäre sehr schnell und absolut tödlich.
Ben war nicht ganz ohne eigene Hilfsmittel. Sobald die äußere Erscheinung registriert und erkannt war, begannen für den Notfall vorgesehene Hilfseinrichtungen zu arbeiten. Er tauchte in die dürftige Deckung eines Fliederstrauchs, der am Rand der Wiese stand, ein paar Meter vom Waldrand entfernt. Er hatte genug Zeit für den stummen Wunsch, dass er die Blüte des Flieders noch erleben möge.
Er hatte Zeit für eine ganze Reihe von Gedanken. Seine Reflexe waren bis an die rein physikalischen Grenzen von Nerven und Muskeln beschleunigt. Sein Bewusstsein arbeitete schnell und mühelos. Die äußeren Ereignisse verlangsamten sich bis auf Kriechtempo.
Er betrachtete den Eindringling. Was er sah, war eine verschwommene goldfarbene Bewegung, der kurze Eindruck einer Handgelenkwaffe, die gezückt und in Anschlag gebracht wurde. Ben konnte sich nicht erklären, was den Mann hierhergebracht hatte, aber seine feindselige Haltung war offensichtlich, die Bedrohung stand außer Frage.
Ben war waffenlos. Es gab Waffen, die im Haus versteckt waren, aber er hätte an dem Räuber vorbeigelangen müssen, um an sie
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