Chuzpe: Roman (German Edition)
Nicht zu sehen. Und nicht an der Macht. Wenn eine Frau in eine Machtposition gelangt, ist das eine Riesensache. Es ist eine Riesensache, daß wir Condoleeza Rice haben. Es war eine Riesensache, als es Golda Meir gab. Und das ist fünfunddreißig Jahre her. Und wer ist schuld daran?« fragte Ruth, ein bißchen außer Atem, und sah Sonia an.
»Die Männer«, antwortete Sonia.
»Nein«, sagte Ruth. »Männer sind vernünftig. Sie wissen, was sie wollen. Und sie wissen, wie sie es bekommen. Ihre Hirne sind nicht vernebelt und mit sinnlosem Zeug verklumpt und verstopft. Sie sind nicht bis zum Rand voll mit Selbsttäuschungen über ihre Liebenswürdigkeit, ihre Nettigkeit oder zwölf verschiedene Diäten. Frauen sollten miteinander sprechen. Ehrlich. Sie sollten einander vertrauen. Statt einander in Stücke zu reißen. Sie sollten Informationen, Kontakte, Erfahrungen und Intimes austauschen.«
Ruth hatte den Eindruck, daß das Intime im großen und ganzen von dringenderen Bedürfnissen abgelöst worden war. Karriereschritte, Konferenzen, Elternschaft, Wohnungseinrichtung oder Hauskauf schienen größere Gefühlsregungen auszulösen als Orgasmen. Und richtig wichtig waren meistens Firmenpolitik, Immobilientransaktionen, Scheidungsverhandlungen oder sportliche Aktivitäten. Nicht Vorspiel. Oder Libido.
Ruth machte sich Sorgen über ihre Libido. Sie war der Ansicht, daß man eine Libido leicht verlieren konnte. Leichter als Handschuhe oder Regenschirme. Handschuhe und Regenschirme konnte man im Auge behalten. Eine Libido dagegen konnte man verlegen, ohne es zu merken. Jahrelang. Und selbst wenn man sich Sorgen über die eigene Libido machte, konnte man nicht darüber sprechen. So etwas war kein geeignetes Gesprächsthema. Man konnte nicht über eine verlegte Libido plaudern, wie man über ein weggelaufenes Haustier plaudern konnte. Und außerdem wurde dieser Verlust von anderen nicht einmal bemerkt. Im Unterschied zu Gewichtsverlust. Oder Haarausfall.
»Frauen müssen Erfahrungen und Intimität teilen«, wiederholte Ruth.
»Was für eine Intimität?« fragte Sonia.
»Jede Art von Intimität«, sagte Ruth.
»Ich kenne keine einzige Frau, der es leichtfiele, über Sexzu sprechen«, antwortete Sonia. »Jedenfalls keine verheiratete Frau.« Sie schwieg. »Wahrscheinlich weil sie von dem Sex, den sie haben, nicht besonders begeistert sind«, sagte sie. »Sex zwischen Ehepartnern ist nur ein Thema unter vielen in ihrem Alltag. Wie Rechnungen bezahlen oder den Abfall rausbringen. So utilitaristisch und alltäglich wie Geschirrspülen. Und genauso mechanisch. Zwei Minuten nachdem man angefangen hat, ist es schon wieder vorbei. Er hat ejakuliert. Du hast gestöhnt. Für einen Augenblick hattet ihr beide vergessen, was ihr im Fernsehen gesehen habt oder was im Büro los war oder daß ihr eines der Kinder oder den Partner eben noch am liebsten erschlagen hättet. Eine halbe Stunde später schläfst du oder denkst wieder über das Kind oder das Büro nach. Die Entfernung, die ihr überbrückt hattet, um nicht an die häßlichen Socken oder Unterhosen oder an die sonderbaren Eßgewohnheiten zu denken, ist wieder da. Die Entfernung, die ihr überbrückt hattet, um einander nahe zu sein, ist wieder da. Die einzige Möglichkeit, mehr als das zu haben, besteht darin, sich einen Liebhaber zu nehmen. Das habe ich jahrelang getan. Aber ich kann es nicht mehr. Es ist zu schwierig, Ehefrau, Mutter und Geliebte zu sein. Ehefrau und Geliebte habe ich schon kaum unter einen Hut gebracht. Es war einfach zu schwierig, den Überblick zu behalten. Ganz zu schweigen davon, daß so etwas mit Kindern schlicht unmöglich ist. Schließlich kann man nicht Cornflakes einkaufen und gleichzeitig daran denken, wie der Geliebte riecht. Das geht einfach nicht.«
Sonia sah bedrückt aus. Ihr normalerweise geradegeschnittenes glattes Haar war zerrauft.
Ruth war beunruhigt. Sonia tat ihr leid. Ruth war sich nicht sicher, daß Sex oder die Frage, wie häufig man Sex hatte, einen verläßlichen Maßstab des Eheglücks bildete. Es spielte so vieles mit hinein. Sie fand, daß sie eine glückliche Ehe führte. Sie wußte, daß sie Garth liebte. Aber Liebewar etwas so Nebulöses. Man konnte einen anderen aus so vielen falschen Gründen lieben. So viele Irrtümer konnten Eingang in die Liebe finden und fanden ihn auch. So viele Ablenkungen. Und so viel Zerstörung. Man konnte einen anderen lieben, weil er es einem ermöglichte, sich schlecht zu fühlen oder
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