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Chuzpe: Roman (German Edition)

Chuzpe: Roman (German Edition)

Titel: Chuzpe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lily Brett
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wirkte, als freue er sich über den Anruf und darauf,das Gespräch zu beenden. Ausnahmslos. Ruth hatte vor langer Zeit gelernt, daß es wenig Sinn hatte, mit Garth am Telefon über ihre Arbeit, über die Kinder, über ihren Vater oder irgendein anderes Thema ausführlich sprechen zu wollen. Garth fehlte ihr.
    »Ich weiß, daß er außer Landes ist«, sagte Ruth zu Sonia. Sie schwieg. »Ich versuche, mich zu beherrschen und ihn nicht alle fünf Minuten anzurufen«, sagte sie.
    »Sehr gut«, sagte Sonia.
    »Aber es gelingt mir nicht«, sagte Ruth. »Gestern habe ich ihn siebenmal angerufen. Ist nicht schlimm«, sagte sie, bevor Sonia etwas sagen konnte, »ich kam nicht durch. Es war jedesmal die Mailbox. Ich habe keine Nachricht hinterlassen.«
    Ruth wurde verlegen. Sie beschloß, kein weiteres Wort über die wiederholten Anrufe zu verlieren. Sie ging auf die Toilette.
    »Soll ich dich anrufen, wenn ich Termine für die Frauengruppe ausmache?« fragte Ruth, als sie das Coco’s verließen.
    »Unbedingt«, sagte Sonia.
    Ruth ging die Broome Street entlang. Sie ging gerne zu Fuß. Sie ging sooft sie konnte zu Fuß. Das Gehen gab ihr Zeit zu denken. Es gab ihr Ruhe. »Einen schönen Tag, du Arschloch«, rief eine Frau an der Ecke der Mercer Street einem Mann nach, der sie in der Eile, ein Taxi zu erwischen, angerempelt hatte. »Diese Stadt ist irre, krank, kaputt«, rief die Frau, an niemand Besonderen gerichtet.
    Ruth empfand ein Glücksgefühl. Es war noch immer eine Erleichterung, wieder zu hören, daß Leute sich über New York beschwerten. Jedermann beschwerte sich. Ruth eingeschlossen. Sie beschwerte sich über den Lärm, den Verkehr, die Preise, das Gedränge, den Streß. Die Beschwerden über die Stadt waren am 11. September 2001 verstummt. DieBeschwerden hatten sich verflüchtigt. An den Tagen nach dem 11. September sahen die Leute auf den Straßen aus, als wäre ihnen das Herz gebrochen. Man konnte sehen, was die Leute empfanden. Man konnte sehen, wer sie unter den Masken waren, mit denen sie sich voreinander versteckten. Es war nachgerade schockierend, zu sehen, was jeder empfand. Die Anonymität und Unsichtbarkeit der Leute um einen herum war verschwunden. Man sah durch den Lippenstift, den Straßenanzug, die Aktentasche, die Jeans oder den Chanel-Mantel hindurch. Man sah die Todesangst auf den Gesichtern der Leute. Man sah Zärtlichkeit. Man sah Verletzlichkeit. Man sah Liebe. Man sah, wer die Leute wirklich waren.
    Wer die Leute waren, das hatte Ruth einen Großteil ihres Lebens über beschäftigt. »Man kann nie wissen, wozu Leute fähig sind«, hatte Rooshka Rothwax, ihre Mutter, immer wieder zu ihr gesagt. Rooshka und Edek, Ruths Vater, waren fünf Jahre lang im Ghetto von Lodz gewesen, bevor sie nach Auschwitz deportiert worden waren. Ruth wußte, daß ihre Mutter tatsächlich erfahren hatte, wer jemand war. Daß sie tatsächlich erfahren hatte, wie Leute waren.
    In der Zeit unmittelbar nach dem 11. September waren die Umsätze von Rothwax Correspondence dramatisch eingebrochen. Wochenlang lief das Geschäft mau. Eigentlich monatelang. Ruth hatte den Eindruck, daß die Leute begonnen hatten, sich selbst zu artikulieren. Persönlich. Daß sie ein besseres Verhältnis zu ihren eigenen Gefühlen gefunden hatten. Sie hatte den Eindruck, daß die Leute nach dem 11. September ein größeres Bedürfnis nach Nähe, nach Unmittelbarkeit hatten. Das Bedürfnis, mit ihren eigenen Worten zu kommunizieren, nicht mit geliehenen. Konzernchefs und Chefs kleiner Firmen, Hausfrauen, Ökonomen, Bankiers, Gabelstaplerfahrer, Ärzte, oft genug Leute, die noch nie in ihrem Leben ein Gedicht gelesen hatten, schriebenplötzlich Lyrik. Und ihre eigenen Briefe. Worte, das war Ruths Eindruck, waren persönlicher geworden. Für sie waren Worte immer etwas Persönliches gewesen. Etwas Wesentliches. Wer bei Eltern aufgewachsen war, deren Englisch eine Art Pidgin war, wußte, wie entscheidend das richtige Wort war.
    Ruth hatte auch das Gefühl, daß nach dem 11. September manches, was vorher so bedeutend erschienen war, unbedeutend geworden war. Kleine und große Ärgernisse waren unwichtig geworden. Fast als gäbe es sie nicht. Feindseligkeit, Abneigung, Unverträglichkeit und Reizbarkeit hatten sich merklich verringert. Nachbarn sprachen miteinander. Kollegen kümmerten sich um ihre Kollegen. Familien wirkten vereint. Es war nicht von Bestand. Nach drei, vier Monaten kehrte alles in den gewohnten Trott zurück. Rothwax

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