Club Kalaschnikow
schossen bereits alle möglichen dummen Gedanken: Gleb hatte sich betrunken und randalierte, man klopfte an ihre Tür, das Handy auf dem Schminktisch klingelte ununterbrochen. Sie mußte hinaus. Es gab kein Entrinnen.
Katja öffnete die Augen und sah in den Spiegel. Sie hatte schon seit langem bemerkt, daß ihr Gesicht sich mit jeder neuen Rolle veränderte – ein anderer Ausdruck in den Augen, ein neuer Zug um den Mund. Mit jeder Heldin durchlebte sie ein ganzes Leben, von der Geburt bis zum Tod. Eben noch war sie zusammen mit der blutrünstigen Lady Macbeth gestorben, und nun mußte sie neu geboren, wieder sie selbst werden, Jekaterina Filippowna Orlowa,eine müde Frau von dreißig Jahren mit überstrapazierten Muskeln.
Ganz ohne Make-up konnte sie nicht in den Bankettsaal gehen. Blitzlichter würden aufflammen, und danach würde in irgendeiner Boulevardzeitschrift ein doppelseitiges Foto mit einer grünlich-blassen, erschöpften, ungeschminkten Primaballerina erscheinen. Und an ihrer Seite Gleb: betrunken, mit rotem Gesicht und verrutschter Krawatte, mit irrem Blick und einem zweideutigen Grinsen auf den feuchten Lippen. Seht her, Leute, das strahlende Paar, die Crème der Moskauer Bohème, weidet euch an ihrem Anblick! Ihr braucht sie nicht zu beneiden. Nur aus der Dunkelheit des Zuschauerraumes wirkt die Primaballerina wie eine Märchenschönheit. In Wirklichkeit sieht sie älter aus als sie ist, hat dunkle Ringe unter den Augen, eine von der Schminke welke Haut, blasse Lippen und hervorstehende Schlüsselbeine. Ihr Mann ist ein Grobian und Raufbold, fast schon ein Alkoholiker, Kinder haben sie keine und werden wohl auch keine mehr bekommen.
Katja kämmte ihre langen kastanienbraunen Haare und drehte sie im Nacken zu einem straffen Knoten. Wieder schrillte das Telefon, sie zuckte zusammen und zerkratzte sich mit der Haarnadel schmerzhaft den Hals.
Ein heiseres Flüstern erklang im Hörer: »Er macht sich doch gar nichts aus dir. Geh besser von selbst, bevor es zu spät ist …«
Katja drückte auf den Knopf und warf das Handy weg, als hätte sie einen Stromschlag erhalten.
Noch vor zwei Wochen, als sie morgens um acht zum ersten Mal von einem solchen Anruf geweckt worden war, hatte sie sich gesagt: nicht nervös werden, gar nicht beachten. Wenn man eine Primaballerina ist, einen reichen Mann hat, eine Fünfzimmerwohnung, ein Haus auf Kreta, zwei Autos und noch vieles mehr, gibt es immer Leute, die einen kränken und einschüchtern möchten. Beim ersten Malhatte die heisere Frauenstimme geflüstert: »Heute wirst du dir auf der Bühne ein Bein brechen, du Dörr-Giselle«, – und sofort aufgelegt.
Mit übermenschlicher Anstrengung lächelte Katja ihrem bleichen Spiegelbild zu. Noch etwas Lippenstift, eine dünne Schicht Puder, ein paar Tropfen Parfum. Und nur keine Panik.
Sie stand auf und betrachtete sich in dem riesigen Spiegel. Ein glatter Rock aus dünnem schwarzem Leder, ein schlichter milchfarbener Kaschmirpullover, schwarze Pumps mit halbhohem Absatz. Vielleicht ein bißchen zu korrekt und alltäglich, aber sie hatte nicht die Absicht, sich lange am Büfett aufzuhalten. Sie war müde und wollte schlafen.
»Katja!« heulte Gleb auf, als er sie im Bankettsaal erblickte. »Meine Süße, mein Schnuckel, komm her, laß dich küssen!«
Mit ausgebreiteten Armen torkelte er auf sie zu. Die Menge trat auseinander, auf den Gesichtern las Katja taktvolle Gleichgültigkeit und leisen Spott. Manche wandten sich ab, als sei nichts geschehen. Andere blickten Katja mit aufrichtigem Mitgefühl an. Ein Blitzlichtgewitter blendete sie. Gleb trat einer Musikwissenschaftlerin auf den Fuß, die Dame schrie auf, wich zurück, eine hohe Schale mit Früchten stürzte zu Boden. Apfelsinen und Äpfel hüpften wie Tennisbälle übers Parkett.
Man beglückwünschte und küßte Katja. Ihr Tanzpartner Mischa Kudimow schützte sie mit seiner zuverlässigen Schulter vor einer dreisten Videokamera.
»Alles war großartig, Katja, wir haben uns prima geschlagen. Ich bin völlig erledigt. Dieser widerliche kleine Reporter mit dem Ohrring fliegt jetzt endgültig raus! Ich bin gleich wieder da.«
Mischa ging zu dem hünenhaften Wachmann, der mit gelangweiltem Gesicht an der Tür stand, und flüsterte ihm kurz etwas zu. Darauf schnappte sich der Wachmann eingeschlechtsloses Geschöpf in zitronengelbem Spitzenjackett und mit einem riesigen falschen Brillanten im Ohr. Katja erkannte ihn, es war einer der schlimmsten Skandalreporter
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