Coco Chanel & Igor Strawinsky
Ohren. »Sie bringen mich um!«, stieß sie in einem halb erstickten Schrei hervor.
In dem Moment spürte sie, wie sich etwas Unwiderrufliches um sie legte. Und in dem Sekundenbruchteil, bevor der Tod von ihr Besitz ergriff, erschienen eine Million Bilder auf einer bebenden Membran im Hintergrund ihrer Augen.
Alles stand lebendig vor ihr wie in einem Spiegel, aber gleichzeitig eingehüllt in den diffusen Glanz eines Traums. Und in dieser letzten Klarheit erinnerte sie sich wieder an sein Gesicht, wenn er sich vorbeugte, um sie zu küssen, sah ganz deutlich seine dunklen Augen vor sich.
»Das ist es also!«, murmelte sie.
Dann tauchte sie ein in die Stille. Ihr Gesicht verlor jede Kontur. Um sie herum war nur noch Dunkelheit. Alles wurde leer.
Zu spät drückte Céline die Spritze in Cocos Arm. Sanft ließ sie sie wieder sinken. Mit einer Ruhe, die sie selbst überraschte, schloss sie Cocos Augen.
Kapitel 2
1913
COCO IST ZU Hause in der Rue Cambon und tanzt fröhlich zu einer inneren Melodie. Vor einem bodentiefen Spiegel trällert sie vor sich hin.
Qui qu’a vu Coco
Dans l’ Trocadéro …
Ihre Lippen sind rot, die Augen schwarz, und der Schnitt ihres weißen Kleids ist hinreißend schlicht.
Mehrmals dreht sie sich um sich selbst und bewundert ihre schlanke Silhouette. Sie genießt das Knistern, mit dem der Unterrock gegen das seidene Kleid reibt.
Die ganze Woche hat sie daran gearbeitet, hat viel Zeit auf den Kragen verwendet und sich mit dem Saum gequält. Jetzt ist sie endlich zufrieden. Es sieht umwerfend aus, und sie weiß es. Kühn endet die gestufte weiße Seide ein gutes Stück über dem Knöchel. Gerade geschnitten und zum Saum hin ausgestellt, fließt das Kleid geradezu an ihrem Körper herab.
Auch mit dem Hut hat sie sich lange geplagt: mit seiner breiten Krempe aus schwarzer Seide und dem eng anliegenden Kopfteil. Sie setzt ihn auf, steckt eine lose Haarsträhne darunter und verschiebt ihn dann in einen kecken Winkel. Schatten fällt auf eine Hälfte ihres Gesichts.
Où? Quand? Combien?
Ici. Maintenant. Pour rien!
Sie lacht. Dann legt sie sinnlich den Kopf in den Nacken und streicht mit dem Finger ein wenig Parfüm auf ihren Hals.
Sie ist sehr aufgeregt, denn sie war noch nie zuvor bei einem richtigen Konzert. Es sollen mehrere Werke gespielt werden, darunter auch die Uraufführung eines Stücks von Strawinsky. Alle werden da sein. Es wird sicher ein großes Ereignis. Sie ist ein wenig besorgt, aber gleichzeitig spürt sie eine berauschende Schärfung ihrer Sinne. Jedes Flüstern ihres Kleides, jeder Hauch ihres Parfüms, jede Oberfläche, auf die ihre Hand trifft, scheint ihr Bewusstsein für die Welt um sie herum zu schärfen.
Das Telefon klingelt und reißt sie aus ihrer Versunkenheit, doch sie ignoriert das Geräusch. Der Fahrer wartet schon, und sie will nicht zu spät kommen. Sie prüft, ob sie ihre Geldbörse und den Schirm hat. Das Klingeln bricht ab. Sie hofft, dass es nicht Caryathis war, um ihr zu sagen, dass sie nicht kommen könne. Zu dumm, denkt sie, und streift energisch die Handschuhe über.
Als sie die Treppe hinuntergeht, sieht sie die Gliederpuppen unten im Salon. Kalte Torsos. Gipsköpfe. Hüte und Kleider mit klaren, strengen Linien. Sie spürt die Hitze, um die sie betrogen werden. Alles wirkt so still und reglos, verglichen mit der Erregung, die sie in ihrem Innern spürt. Als sie die Tür öffnet, begrüßen sie die Gerüche und Geräusche eines nasskalten Frühlingsabends. Sie atmet mehrmals tief ein, um den Kopf freizubekommen, als schenke ihr jeder frische Atemzug neues Leben. Dann steigt sie entschlossen in den Fond des wartenden Wagens.
Es dämmert. Zeit, die Lampen einzuschalten. Nach und nach leuchten um sie herum die Lichter der Stadt auf. Eine grelle Pracht breitet sich entlang der Avenuen über die Hauptstadt aus. Straßenbahnen poltern über die Boulevards,
Omnibusse drängeln sich die Straßen hinauf. Der Wagen fährt langsam an der Bar auf der Rückseite des Ritz vorbei und biegt scharf rechts in die Rue St. Honoré ein. Einen Moment schwimmt der Fahrer träge im Verkehr mit, ehe er links in die Rue Royale und auf die Place de la Concorde zu schwenkt. Die Reifen protestieren mit einem schrillen Kreischen, als sie schräg über eine der Straßenbahnschienen fahren. Der leichte Aufprall lässt den Wagen holpern, und Cocos Hut stößt gegen die Decke.
»Vorsicht!«, herrscht sie den Fahrer an.
»Entschuldigung.«
»Pff.« Ärgerlich winkt sie
Weitere Kostenlose Bücher