Coco Chanel & Igor Strawinsky
Dienstmädchen Céline eingetroffen und machte gerade das Bett. Der Schlüssel kratzte im Schloss, als Coco die Tür zu ihrem Zimmer öffnete. Das Mädchen nahm Haltung an und wünschte ihr einen guten Morgen. Ohne stehen zu bleiben, musterte Coco sie von Kopf bis Fuß.
»Dein Haar ist zu lang, Mädchen, und dein Rock ist zu kurz.«
Céline lächelte, berührte halb entschuldigend ihren Haarreif und zog den Saum des Minirocks herunter. Sie wusste, dass Coco sie nur provozieren wollte. »Das ist jetzt modern so«, verteidigte sie sich.
»Was verstehst du denn schon davon?«, fauchte Coco.
Gekränkt wandte sich Céline wieder dem Bett zu. Aber Coco legte ihr eine Hand auf den Arm und hielt sie zurück. »Ich bin sehr müde«, sagte sie in freundlicherem, beinahe
flehendem Ton. Sie stützte sich an einer der Messingkugeln auf den Bettpfosten ab und sah auf der gewölbten Oberfläche ihr drastisch verkürztes Spiegelbild. Ihr war schwindlig. »Ich möchte mich hinlegen«, sagte sie.
Das Dienstmädchen nickte. Ihre Lippen verzogen sich hastig zu einem Lächeln. Coco legte Mantel und Brille ab, und wand ihre Füße mühevoll aus den Schuhen. Dann setzte sie sich auf die Bettkante und ließ sich nach hinten auf das Kissen sinken. Sie zuckte kurz zusammen, als sie die Beine nachzog.
Sie hatte sich noch nie so erschöpft gefühlt. Der Anblick der toten Vögel hatte sie deprimiert. Ihr war übel. Warum musste ihr so etwas ausgerechnet an ihrem freien Tag begegnen? Sie brauchte Ruhe, ehe sie morgen wieder an die Arbeit zurückkehrte, wo hundert Dinge darauf warteten, erledigt zu werden. Kaum hatte sie die Frühjahrskollektion fertiggestellt, da drängte man sie auch schon, Entwürfe für den Sommer vorzulegen. Sie stand unter großem Druck. Und mit jedem Jahr schien es schlimmer zu werden. In Gedanken ging sie ihren Terminkalender für die kommende Woche durch, doch die Einzelheiten verschmolzen zu einem unentwirrbaren Knoten. Ihr Kopf begann zu pochen, und ihre Schultern verspannten sich. Sie fühlte, wie das Blut träge in ihre Finger und Zehen floss.
Sie schloss die Augen und gestattete sich, wieder an jene Monate zurückzudenken, die sie mit Strawinsky in ihrer Villa verbracht hatte. Der größte Komponist des Jahrhunderts und die berühmteste Modeschöpferin und Parfümeurin ihrer Zeit. Wer hätte das damals geahnt? Wer würde es heute glauben?
Langsam entwirrten sich die Ranken ihrer gegenwärtigen Sorgen und wichen Erinnerungen an Sonnenschein, Vogelzwitschern
und die konvulsivischen Zuckungen eines Körpers am Klavier. Die Rhythmen der imaginären Musik verschmolzen unmerklich mit ihrem Atem, während sich ihr Bewusstsein trübte und sie in tiefen, traumerfüllten Schlaf hinüberglitt.
Eine Stunde später erwachte sie von einem stechenden, sternförmig ausstrahlenden Schmerz in der Brust, der sich rasch weiter in ihre Arme ausbreitete. Er drückte von oben auf ihren Kopf. Angst griff nach ihrem Körper. Entsetzen füllte ihren Geist. Sie blickte sich um. Als Erstes sah sie die weißen Wände ihres Zimmers, dann das Tischchen neben ihrem Bett. Darauf stand ein Glas Wasser neben einer Lampe mit weißem Schirm und einer Ikone, einem Triptychon, das ihr Strawinsky vor einem halben Jahrhundert geschenkt hatte.
Die weißen Wände. Das Nachttischchen. Die Ikone. Ängstlich versuchte Coco, sich mithilfe dieser Bezugspunkte zu orientieren. Trotzdem hatte sie immer noch das Gefühl, am falschen Ort zu sein.
Unvermittelt kippte etwas in ihr. Ein wilder Ausdruck trat in ihre Augen. Panik durchströmte sie.
»Hilf mir hoch, schnell!«, rief sie ihrem Dienstmädchen zu, das aus dem Nebenzimmer herbeigerannt kam. Atemnot schnürte ihr die Kehle zu. »Ich bekomme keine Luft!« Ihre Augen weiteten sich in bangem Entsetzen. Ihre Stimme erschien ihr körperlos. Als seien sie schuld daran, dass sie zu ersticken drohte, zerrte sie an den weißen Perlensträngen um ihren Hals. Dann begann sich der Raum unaufhaltsam um sie zu drehen, wirbelte immer schneller, bis alles um sie herum verschwamm. Ihre Haut war plötzlich schweißbedeckt und verströmte einen scharfen Geruch. Die Speichen ihrer Iris sahen mit einem Mal aus wie Räder.
Hastig griff Céline nach einer Spritze und brach mit einiger Mühe die Spitze einer Ampulle Sedol ab. »Ganz ruhig, ich bin ja da. Alles wird gut.«
Cocos Blick wurde in eine Zimmerecke gezogen. Alle Farbe wich aus ihrem Körper. Ihre Finger reagierten nicht mehr. Ein schriller Ton gellte in ihren
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