Code Freebird
ohne Zutun Dritter den Sprenggürtel umgeschnallt hätte. Viele Tage und Nächte der Indoktrination muss ein Kandidat über sich ergehen lassen. Dabei werden ihm glorreiche Vorbilder und ausgesuchte Koranzitate vorgelegt, die ihn verpflichten und sein späteres Tun rechtfertigen sollen.
Danach wird er von drei oder vier Personen weiterbearbeitet. Sie sorgen dafür, dass er nicht in letzter Minute abspringt. Das entscheidende Element ist jedoch die persönliche Verpflichtung der Gruppe gegenüber.
Diese wird in einem Video mit genau festgelegtem Setting dokumentiert. Mit der Waffe in der Hand, der palästinensischen Flagge und einem Bild der Al-Aksa-Moschee im Hintergrund bekennt der Kandidat offiziell und unwiderruflich, der nächste Schahid zu sein. Damit erhält er den Status eines toten Helden, noch bevor er den eigentlichen Anschlag begangen hat …«
»Held«, wiederholte Levy spontan. »Was trägt dieser Begriff zur Tat bei?«
»Eine gute Frage. Dazu möchte ich die Ausführungen eines deutschen Kollegen aufgreifen. Er postuliert den Aufstand der Gekränkten. Die Frage, woher diese Wut auf Israel und nahezu die gesamte westliche Welt kommt, beantwortet er mit den Schlüsselwörtern Demütigung und dem andauernden Gefühl der Erniedrigung. Die unübersehbare Schere zwischen Arm und Reich sieht er dafür als nicht verantwortlich an. Nun, ich denke, dass Armut und Reichtum durchaus eine Rolle spielen. Wenn die arabischen Führer, weltliche wie geistliche, ihre Menschen nicht in einem derart verwahrlosten Dasein beließen, sondern sie an ihrem Reichtum teilhaben ließen, dann hätten wir dieses Problem gar nicht.
Davon abgesehen, mein deutscher Kollege vertritt die These, dass das arabische Selbstbewusstsein bis zur Zeit der Kreuzzüge zurückreicht. Der Stauferkaiser Friedrich II. soll zum Beispiel den sarazenischen Gelehrten mehr vertraut haben als den eigenen christlichen. Stellen Sie sich vor, welch ein Stolz und welches Selbstbild damals einen Araber erfüllt haben muss, wenn selbst der Gegner ihn mehr achtete als sich selbst.«
Levy unterbrach. »Diese Kreuzzüge scheinen noch immer tief und vor allem negativ im arabischen Bewusstsein verankert zu sein. Was genau hat es damit auf sich?«
»Sturz, Wiederaufstieg und erneuter Sturz. Die Kreuzzüge wurden auf beiden Seiten mit nahezu den gleichen Waffen geschlagen – Speere, Schwerter und Pfeile. Man begegnete sich zumindest technisch auf dem gleichen Niveau. Den entscheidenden Sieg und damit die Vertreibung des Westens aus Jerusalem gelang Saladin. Ein …, nein, der Heldund das Vorbild für jeden Araber, auch von Bin Laden und Saddam. Das Selbstverständnis des Arabers war wiederhergestellt.
Dieser Sieg über den Westen war einer der letzten, die auf gleicher Augenhöhe ausgefochten wurden. Alles, was danach folgte, war ein unerbittlicher Niedergang des Ostens. Der Verlust des Öls, die zunehmende Infiltration durch westliche Lebens- und Wertvorstellungen sowie die Erkenntnis, keine Chance auf eine gerechte eigene Entwicklung zu bekommen, resultierten schließlich in dem, was mein Kollege den Zustand des explosiven Narzissmus nennt.«
»Ein interessanter Ausdruck.«
»Die Natur strebt nach Harmonie, der Balance von Gegensätzen. Ist sie dauerhaft gestört, kommt es zwangsläufig zu einer Reaktion. Der Narzissmus ist ein Zustand, der uns allen zu eigen ist. Jeder Mensch will geachtet und geliebt werden. Sie haben ja gesehen, was mit dem amerikanischen Selbstverständnis nach den Anschlägen vom 11. September passiert ist. Sie haben, verständlich für eine Nation, die auf Kraft und Überlegenheit gebaut ist, so reagiert, wie wir es alle erlebt haben. Aufgescheucht, bis ins Mark erschüttert, plan- und gedankenlos. Vergeltung musste geleistet werden, um die Balance wiederherzustellen. Wieso sollte gerade ein Araber anders handeln?«
»Für einen Juden sprechen Sie auffallend antiamerikanisch und proarabisch.«
»Nur weil ich Jude bin, muss ich meinen Kopf nicht ausschalten. Eine Aussöhnung mit unseren Nachbarn ist längst überfällig. Dazu gehört allerdings auch, dass sich die arabische Seite bewegt. Mit Bombenterror erreichen sie die Herzen auf unserer Seite aber nicht.«
»Zurück zum explosiven Narzissmus. Was sagt er aus, und wie lässt er sich auf die Anschläge in Deutschland anwenden?«
»Wie es der Name schon sagt: Eine Explosion findet statt, sowohl in der Innen- wie auch in der Außenwelt. Der Betroffene kann dem Druck nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher