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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eiserne Zeit
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diesem Land. Weil diejenigen, die milde Gaben
empfangen, diese Gaben verachten, während diejenigen, die geben, mit
hoffnungslosem Herzen geben. Welchen Sinn hat Nächstenliebe, wenn sie nicht von
Herz zu Herzen geht? Was glauben Sie, was das ist: Nächstenliebe? Suppe? Charity,
Caritas: von dem lateinischen Wort für Herz. Nehmen ist ebenso schwer wie
Geben. Es erfordert ebensoviel Überwindung. Ich wünschte, Sie würden das
lernen. Ich wünschte, Sie würden etwas lernen, anstatt bloß herumzuliegen.«
    Eine Lüge: Caritas hat
mit Herz nichts zu tun. Aber was macht es schon, wenn meine Predigten auf
falschen Etymologien beruhen? Er hört kaum hin, wenn ich zu ihm spreche.
Vielleicht ist er trotz dieser scharfen Vogelaugen benebelter vom Trinken, als
ich weiß. Oder vielleicht kümmert ihn das im Grunde alles gar nicht. Sich
kümmern, sorgen, to care: das ist die wahre Wurzel von charity. Ich
erwarte von ihm, daß er sich kümmert, und er tut es nicht. Er sorgt sich nicht
mehr. Er ist darüber hinaus. Jenseits von Sorge und Fürsorge.
    Da das Leben in diesem Land
so sehr dem Leben an Bord eines sinkenden Schiffes gleicht, eines dieser
Passagierdampfer aus alten Zeiten, mit einem tieftraurigen, betrunkenen Kapitän
und einer sauertöpfischen Crew und lecken Rettungsbooten, steht der
Kurzwellenempfänger bei mir am Bett. Die meiste Zeit ist nur Sprache zu hören;
wenn man aber bis in die unwahrscheinlichen Stunden der Nacht dranbleibt, geben
manche Sender nach und spielen Musik. Mal näherkommend, mal entschwindend,
hörte ich letzte Nacht – von woher? Helsinki? den Cook Inseln? – die Hymnen
aller Nationen, himmlische Musik, Musik, die uns vor Jahren verlassen hat und
nun verklärt, sanft zurückkommt als ein Beweis dafür, daß alles, was
fortgegeben ist, letztendlich zurückkehrt. Ein geschlossenes Universum, gewölbt
wie ein Ei, uns umschließend.
    Da lag ich
im Dunkeln, lauschte der Musik der Sterne und dem Knistern und Summen, das sie
begleitete wie der Staub von Meteoren, und ich lächelte, das Herz voller
Dankbarkeit für diese gute Nachricht aus der Ferne. Die eine Grenze, die sie
nicht schließen können, dachte ich: die Grenze nach oben hin, zwischen der
Republik von Südafrika und dem Reich des Himmels. Wohin bald meine Reise geht.
Für die man keinen Paß braucht.
    Noch immer
im Bann der Musik (es war, glaube ich, Stockhausen), setzte ich mich heute
nachmittag ans Klavier und spielte ein paar von den guten alten Stücken:
Präludien aus dem Wohltemperierten Klavier, Chopin-Präludien, Brahms-Walzer
nach zerfledderten, fleckigen, staubtrockenen Novello- und Augener-Editionen.
Ich spielte so schlecht wie immer, las, wie vor einem halben Jahrhundert,
dieselben Akkorde falsch, machte beim Fingersatz wieder die Fehler, die mir nun
unkorrigierbar in den Knochen sitzen. (Die von Archäologen am meisten
geschätzten Knochen sind, wie ich mich erinnere, die von Krankheit knotig
gewordenen oder von einer Pfeilspitze zersplitterten: Knochen, die von einer
Geschichte aus einer Zeit vor der Geschichte gezeichnet sind.)
    Als ich der
Anmut der Brahms-Walzer müde war, schloß ich die Augen und spielte Akkorde, mit
den Fingern nach dem einen Akkord tastend, den ich, wenn ich ihn fände, als
meinen Akkord wiedererkennen würde, den Herzakkord. (Ich spreche von einer Zeit
vor Deiner Zeit, als man, wenn man an einem heißen Samstagnachmittag die Straße
entlangging, hören konnte, wie in einem Vorderzimmer die Tochter des Hauses
leise, aber verbissen die Tasten für diesen ersehnten, flüchtigen Widerhall zu
finden suchte. Auch das waren Tage des Zaubers und Kummers und Geheimnisses!
Tage der Unschuld!)
    »Jerusalem!« sang ich leise, Akkorde spielend, die
ich zuletzt am Knie meiner Großmutter hörte: »And was Jerusalem builded
here?«
    Dann
endlich ging ich zurück zu Bach und spielte schwerfällig, wieder und wieder,
die erste Fuge aus Buch Eins. Der Klang war verschwommen, unscharf die Linien,
doch hin und wieder, für wenige Takte, tauchte die wahre Sache auf, die wahre
Musik, die Musik, die nicht stirbt, zuversichtlich, heiter.
    Ich spielte für mich. Aber
irgendwann knarrte eine Diele oder ein Schatten glitt über den Vorhang, und ich
wußte, daß er draußen war und zuhörte.
    Also spielte ich Bach für
ihn, so gut ich konnte. Als der letzte Takt gespielt war, klappte ich das
Notenbuch zu, und mit im Schoß gefalteten Händen saß ich da und betrachtete das
ovale Porträt auf dem Deckel, die feisten Backen, das

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