Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
lehnte er sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Es gibt nichts mehr. Ich habe mit diesem Herrn zu reden.« Die Vögel protestierten, warteten kurz und schwirrten plötzlich ab, als auf der anderen Seite des campo eine weißhaarige Frau erschien.
»Ich möchte Sie darauf hinweisen, Signor Morandi«, begann Brunetti, den es drängte, sein Gewissen zu erleichtern, »dass ich nicht wegen der Rente bei Signora Sartori war.«
»Soll das heißen, sie wird keine Erhöhung bekommen?«, fragte er, beugte sich vor und drehte sich zu Brunetti.
»Es wurde kein Fehler festgestellt: Sie erhält bereits ihre Rente für die fraglichen Jahre«, sagte Brunetti.
»Es gibt also keine Erhöhung?«, wiederholte Morandi ungläubig.
Brunetti schüttelte den Kopf. »Leider nein, Signore.«
Morandi ließ die Schultern sinken, dann richtete er sich wieder auf. Sein Blick fiel auf den von der Nachmittagssonne gesprenkelten campo , doch für Brunetti sah es aus, als starre der alte Mann auf ein Trümmerfeld.
»Tut mir leid, wenn ich Ihnen Hoffnungen gemacht habe«, sagte Brunetti.
Morandi legte ihm eine Hand auf den Arm. Er drückte ihn schwach und sagte: »Schon gut, junger Mann. Die Rente war von Anfang an falsch berechnet, aber diesmal haben wir wenigstens ein bisschen hoffen dürfen.« Er versuchte zu lächeln. [282] Immer noch dieselben geplatzten Äderchen, dieselbe schiefe Nase und die lächerliche Frisur, und doch fragte sich Brunetti, wo der Mann geblieben war, den er in der casa di cura erlebt hatte, denn der hier war ein ganz anderer.
Keine Spur von seiner Wut oder Furcht bei ihrer ersten Begegnung. Hier in der Sonne war Morandi nur ein stiller alter Mann auf einer Bank. Möglich, dass er wie ein Wachhund seine Schutzbefohlene verteidigte und sich im Übrigen damit zufriedengab, kleine Vögel zu füttern.
Und seine Vorstrafen? Nach wie vielen Jahren spielte so etwas keine Rolle mehr?
»Sind Sie Polizist?«, fragte Morandi zu seiner Verblüffung.
»Ja«, sagte Brunetti. »Woran haben Sie das erkannt?«
Morandi zuckte die Achseln. »Das habe ich als Erstes gedacht, als ich Sie in dem Zimmer sah, und wenn Sie mir jetzt sagen, Sie waren nicht wegen der Rente da, komme ich wieder darauf zurück.«
»Was hat Sie darauf gebracht, dass ich Polizist sein könnte ?«, wollte Brunetti wissen.
Morandi sah ihn an. »Ich habe damit gerechnet, dass die Polizei kommen würde, früher oder später«, sagte er. Er hob die Schultern und stützte die Hände auf die Oberschenkel. »Ich hätte nur nicht gedacht, dass es so lange dauern würde.«
»Was heißt so lange? Seit wann?«, fragte Brunetti.
»Seit sie gestorben ist«, antwortete Morandi.
»Und warum dachten Sie, dass wir kommen würden?«
Morandi sah auf seine Hände, dann zu Brunetti und wieder auf seine Finger. Sehr viel leiser antwortete er: »Wegen dem, was ich getan habe.« Nachdem er das losgeworden war, [283] sank er nach vorn und stemmte die Arme auf seine Schenkel. Aber nicht, um aufzustehen, wie Brunetti bemerkte: Er starrte den Boden an. Plötzlich waren die Vögel wieder da, spähten zu ihm hinauf und zwitscherten nachdrücklich. Brunetti hatte den Eindruck, dass Morandi sie gar nicht wahrnahm.
Er kam mühsam hoch und lehnte sich wieder mit dem Rücken an die Bank. Plötzlich sah er auf seine Uhr und stand auf. Brunetti ebenfalls. »Es ist Zeit. Ich muss zu ihr«, sagte Morandi. »Ihr Arzt war um fünf da, und die Schwestern haben gesagt, danach darf ich mit ihr sprechen. Aber nur kurz. Damit sie sich keine Sorgen macht, egal, was er ihr gesagt hat.«
Er drehte sich um und ging auf die casa di cura zu. Das Gebäude hatte nur die eine Eingangstür, also hätte Brunetti ohne weiteres auf dem campo warten können; aber er ging lieber mit. Morandi schien ihn nicht zu bemerken, oder es war ihm gleichgültig.
Mit Rücksicht auf das Alter des anderen nahm Brunetti diesmal den Aufzug, obwohl er das hasste. Oben erwartete sie die Toltekin; sie begrüßte Morandi mit einem Lächeln und Brunetti mit einem Nicken, hakte sich bei dem alten Mann unter und führte ihn durch die Tür in die Pflegeabteilung.
Allein gelassen, ging Brunetti in einen kleinen Warteraum, von dem aus die Eingangstür zu sehen war. Er setzte sich auf einen wackligen Stuhl und nahm die einzige Zeitschrift - Famiglia cristiana -, die auf dem Tisch lag. Irgendwann musste er sich zwischen der päpstlichen Katechismuslektion der Woche und einem Rezept für einen Käse-Schinken-Auflauf
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