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Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe

Titel: Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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liebten. War es das Gefühl von Freiheit, die Vielfalt der Gerüche? Er wusste nicht, ob Hunde auf kurze oder weite Distanz besser sahen oder ob das je nach Rasse verschieden war. Welcher Rasse dieser hier angehörte, war jedenfalls nicht zu entscheiden: eine Mischung aus Bergamasker und Labrador, Spaniel und Jagdhund. Fest stand nur, der Hund war glücklich, und vielleicht war das alles, was ein Hund brauchte, und alles, was Brunetti über den Hund wissen musste.
    Die Ankunft des Vaporetto unterbrach seine Betrachtungen, und er kam wieder auf Morandi zurück. »Die Leute ändern sich nicht.« Wie oft hatte seine Mutter das gesagt? Sie hatte nicht Psychologie studiert, seine Mutter. Tatsächlich hatte sie überhaupt nichts studiert, aber das hielt sie nicht davon ab, ihren scharfen Verstand zu gebrauchen. Wenn sie hörte, dass jemand sich untypisch verhalten hatte, pflegte sie zu bemerken, genau darin zeige sich erst der wahre Charakter des Betreffenden, und wies auf Vorfälle in der Vergangenheit hin, die ihre Ansicht bestätigten.
    Normalerweise überraschen uns Leute mit dem Schlechten, das sie tun, dachte er: Wenn irgendein ungezügelter Trieb sie und andere ins Verderben stürzt. Wie leicht lassen sich dann in der Vergangenheit die bis dahin unerkannten [279]  Symptome ihrer Schlechtigkeit finden. Wie aber findet man die verborgenen Symptome des Guten in einem Menschen?
    Zurück in seinem Büro, schlug er Morandis Nummer im Telefonbuch nach; nach dem achten Läuten erklärte eine Männerstimme, er sei nicht zu Hause, jedoch über sein telefonino zu erreichen. Brunetti schrieb die Nummer mit und wählte sie gleich anschließend.
    »Si«, meldete sich eine Männerstimme.
    »Signor Morandi?«
    »Si. Chi è?«
    »Guten Tag, Signor Morandi. Hier ist Guido Brunetti. Wir haben vor zwei Tagen im Zimmer von Signora Sartori miteinander gesprochen.«
    »Wegen der Rente?«, fragte Morandi, aus dessen Stimme Brunetti neue Hoffnung oder zumindest höfliches Interesse heraushörte.
    Ohne auf die Frage einzugehen, sagte er: »Ich möchte noch einmal mit Ihnen sprechen, Signor Morandi.«
    »Über Marias Rente?«
    »Unter anderem«, antwortete Brunetti vage. Er wartete auf die misstrauische Nachfrage, worum es denn sonst noch gehen solle. Aber die blieb aus.
    Stattdessen fragte Morandi: »Wann können wir das besprechen? Soll ich zu Ihnen ins Büro kommen?«
    »Nein, Signor Morandi; ich möchte Ihnen keine Umstände machen. Wir können uns irgendwo bei Ihnen in der Nähe treffen.«
    »Ich wohne hinter San Marco«, sagte er, ohne zu ahnen, dass Brunetti viel mehr von seinem Haus wusste als nur die [280]  Adresse. »Aber ich muss um halb sechs in der casa di cura sein; vielleicht können wir uns dort in der Nähe treffen?«
    »Auf dem campo ?«, schlug Brunetti vor.
    »Gut. Ich danke Ihnen, Signore«, sagte der alte Mann. »In fünfzehn Minuten?«
    »Gut«, sagte Brunetti und legte auf. Die Zeit reichte noch für einen kurzen Besuch in der Asservatenkammer, dann machte er sich auf den Weg. Die Spätherbstsonne tätschelte ihm aufmunternd den Hinterkopf.
    Der alte Mann saß weit vorgebeugt auf einer Bank vor der casa di cura und fütterte eine Schar Spatzen zu seinen Füßen. O Gott, sollte Brunetti sich von ein paar Brotkrumen erweichen lassen, die jemand hungrigen Vögeln hinwarf? Er wappnete sich und ging ihm entgegen.
    Morandi hörte ihn kommen, warf die letzten Krümel weg und stand mühsam auf. Ihre erste Begegnung war offenbar vergessen, als Morandi ihm lächelnd die Hand hinstreckte; Brunetti nahm sie und war überrascht, wie kraftlos der andere Zugriff. Und wie klein der Mann war, als er da vor ihm stand: Er sah die rosa Kopfhaut zwischen den dunklen Haarsträhnen durchschimmern. »Setzen wir uns?«, fragte Brunetti.
    Morandi neigte sich vornüber, stützte sich mit einer Hand ab und ließ sich langsam auf die Bank sinken. Brunetti nahm mit etwas Abstand von ihm Platz, und die Vögel hüpften aufgeregt durcheinander. Gedankenverloren holte Morandi eine Handvoll Körner aus seiner Jackentasche und schleuderte sie auf den campo. Erschreckt von der heftigen Bewegung, flatterten einige Vögel auf, landeten aber gleich wieder [281]  bei den anderen, die zu Fuß gelaufen waren. Ohne Zank und Kabbelei machten sie sich über die Körner her und pickten auf, so viel sie kriegen konnten.
    Morandi sah Brunetti an und sagte: »Ich bin hier fast täglich, die kennen mich inzwischen.« Die Vögel rückten näher heran, aber jetzt

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