Commissario Montalbano 08 - Die Passion des stillen Rächers
einem Korb genommen. Montalbano nahm es, schlug es zweimal leicht auf den Tisch und schlürfte es aus. So ein Ei hatte er sich schon seit Jahren nicht mehr schmecken lassen.
Auf dem Rückweg stand an einer Abzweigung ein Schild mit der Aufschrift »Montereale 18 km«. Er bog in die Straße ein. Vielleicht hatte ihn das Ei daran erinnert, dass er schon lange nicht mehr in dem Geschäft von Don Cosimo gewesen war, einem winzigen Laden, in dem man noch Dinge bekam, die in Vigàta längst verschwunden waren, wie zum Beispiel Oreganosträußchen, Tomatenmark aus sonnengetrockneten Tomaten und vor allem Essig, der durch die natürliche Fermentation von schwerem Rotwein gewonnen wird. Die Flasche zu Hause war fast leer. Er benötigte also dringend Nachschub.
Montalbano brauchte unglaublich lange bis Montereale, er war im Schneckentempo gefahren, zum einen, weil er über die Folgen dessen nachdachte, was Angela ihm bestätigt hatte, zum anderen, weil er die unbekannte Landschaft genießen wollte. Als er im Ort in die Gasse einbiegen wollte, die zu dem Laden führte, sah er das Einbahnstraßenschild.
Das war neu, so ein Schild hatte es früher nicht gegeben. Er hätte also einen weiten Umweg fahren müssen. Da ließ er das Auto besser hier auf der kleinen Piazza stehen und ging ein paar Schritte zu Fuß. Er hielt am Straßenrand, öffnete die Tür und sah sich einem Verkehrspolizisten in Uniform gegenüber.
»Sie können hier nicht parken.«
»Nein? Warum nicht?«
»Haben Sie das Schild nicht gesehen? Parkverbot.«
Der Commissario sah sich um. Drei Autos standen auf dem Platz: ein Lieferwagen, ein VW-Käfer und ein Geländewagen.
»Und die?«
Der Polizist machte ein strenges Gesicht.
»Die haben eine Genehmigung.«
Warum nur musste sich jedes Dorf, auch wenn es bloß zweihundert Einwohner hatte, heutzutage mindestens für New York halten und hochkomplizierte Verkehrsregeln aufstellen, die sich alle zwei Wochen änderten?
»Es handelt sich doch nur um ein paar Minuten«, sagte Montalbano versöhnlich. »Ich muss zu Don Cosimo in den Laden und …«
»Das geht nicht.«
»Ist es sogar verboten, zu Don Cosimo zu gehen?«, fragte Montalbano völlig verdattert.
»Verboten ist es nicht«, sagte der Wachtmeister. »Der Laden ist zu.«
»Und wann macht er wieder auf?«
»Ich glaube nicht, dass er noch mal aufmacht. Don Cosimo ist tot.«
»Jesus Maria! Seit wann?«
»Sind Sie ein Verwandter?«
»Nein, aber …«
»Warum wundert Sie das so? Don Cosimo, Gott hab ihn selig, war fünfundneunzig. Und vor drei Monaten ist er gestorben.«
Fluchend fuhr Montalbano wieder los. Der Weg aus dem Ort hinaus war ein solches Labyrinth, dass er irgendwann wütend wurde. Er beruhigte sich erst wieder, als er die Küstenstraße nach Marinella erreichte. Plötzlich fiel ihm ein, dass an dieser Straße hinter dem Kilometerstein vier Susannas Rucksack von den Carabinieri gefunden worden war; Mimì Augello hatte ihm davon berichtet. Montalbano hielt an der angegebenen Stelle. Er stieg aus. In der Nähe war kein Haus zu sehen. Rechter Hand wuchsen struppige Grasbüschel, dahinter leuchtete der goldgelbe Strand, der später in den Strand von Marinella überging.
Noch weiter hinten brachen sich so kurz vor Sonnenuntergang träge die Wellen. Links verlief eine hohe Mauer mit einem weit geöffneten schmiedeeisernen Tor, von dem aus eine asphaltierte Straße durch ein gepflegtes Wäldchen zu einer Villa führte, die allerdings nicht zu sehen war. Neben dem Tor hing ein stattliches Bronzeschild mit Reliefschrift.
Montalbano brauchte die Straße nicht zu überqueren, er wusste auch so, was da stand.
Er setzte sich wieder ins Auto und fuhr los.
Wie sagte Adelina immer? »Der Mensch ist ein Gewohnheitstier.« Wie ein Esel, der immer denselben Weg geht und sich daran gewöhnt, so neigt der Mensch dazu, ohne nachzudenken, aus reiner Gewohnheit, immer dieselben Wege zurückzulegen, die gleichen Handgriffe zu tun.
Aber konnte das, was er eben zufällig entdeckt, und das, was er von Angela erfahren hatte, als Beweis herhalten? Nein, schloss er, ganz sicher nicht. Aber als Bestätigung, ja, das schon.
Um halb acht schaltete er den Fernseher ein, um die ersten Nachrichten zu sehen.
Es hieß, die Ermittlungen hätten nichts Neues ergeben, Susanna sei noch nicht in der Lage, mit der Polizei zusammenzuarbeiten, und man erwarte bei der Beerdigung von Signora Mistretta eine riesige Menschenmenge, obwohl die Familie erklärt habe, sie wolle in der
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