Commissario Montalbano 14 - Die Tage des Zweifels
Moment kam es ihm vor, als hätte er die Szene mit Laura vor dem Backofen nur geträumt. Seine schmerzenden Fingerkuppen bestätigten ihm jedoch, dass er sie tatsächlich erlebt hatte.
Laura war klüger gewesen als er.
Klüger oder ängstlicher?
Aber wenn man davonlief und vor der Wirklichkeit floh, wurde sie nicht einfach ausgelöscht. Und jetzt, da ihnen beiden diese Wirklichkeit vollkommen bewusst war, stand sie noch greifbarer vor ihnen.
Wie sollten sie es fertigbringen, ihre Gefühle füreinander zu verbergen, wenn sie sich in der Öffentlichkeit begegneten?
Sollte er ihr wirklich vollständig aus dem Weg gehen? Das ließ sich machen, aber dazu musste er den Mordfall abgeben. Ein sehr hoher Preis, den er nicht bereit war zu zahlen.
Es mochte neun Uhr morgens sein. Montalbano war schon seit einer halben Stunde im Büro, als das Telefon klingelte.
Seine Stimmung war düster, und er konnte sich zu nichts aufraffen. Er betrachtete die feuchten Flecken an der Decke und versuchte, Gesichter oder Tiere darin zu erkennen, aber an diesem Morgen ließ ihn seine Phantasie im Stich, und die Flecken blieben Flecken.
»Ah Dottori! Ich habe da jemanden, der sagt, dass er Fiorentino heißt.«
War es möglich, dass Catarella endlich einmal einen Namen korrekt wiedergab?
»Hat er dir gesagt, was er will?«
»Sissì. Er will mit Ihnen persönlich selber sprechen.«
»Stell ihn durch.«
»Ich kann ihn nicht durchstellen, er ist …«
»… hier im Kommissariat?«
»Sissì.«
»Dann rein mit ihm.«
Es vergingen fünf Minuten, aber niemand kam. Er rief Catarella an.
»Was ist? Wo bleibt denn dieser Fiorentino?«
»Ich hab ihn reingebracht.«
»Hier ist er aber nicht angekommen!«
»Kann er auch gar nicht, wo ich ihn doch ins Wartezimmer gebracht habe, wie Sie’s gesagt haben.«
»Zu mir solltest du ihn bringen!«
»Sofortestens, Dottori!«
Ein untersetzter, gut gekleideter Fünfzigjähriger mit Brille trat ein.
»Nehmen Sie doch Platz, Signor Fiorentino.«
Der Mann wirkte überrascht.
»Mein Name ist Toscano.«
Catarellas Verwirrspiel mit den Namen wurde immer raffinierter.
»Verzeihung. Bitte setzen Sie sich und sagen Sie, was Sie zu mir führt.«
»Ich bin der Besitzer des Hotels Bellavista.«
Montalbano kannte das Hotel, es war ein Neubau am Ortsrand, direkt an der Straße nach Montereale gelegen.
»Vor ein paar Tagen hatten wir einen Gast, der eine Nacht bleiben wollte. Er ging in sein Zimmer, kam runter, ließ sich ein Taxi rufen und verschwand. Und seither haben wir ihn nicht wieder gesehen.«
»Waren Sie selbst an der Rezeption?«
»Nein, ich komme einmal am Tag ins Hotel und sehe nach dem Rechten. Hauptberuflich bin ich Möbelhändler. Gestern Abend, ich wollte gerade schlafen gehen, rief mich der Nachtportier an. Er hatte auf ›Retelibera‹ einen Fahndungsaufruf gesehen. Es ging um einen Unbekannten, der tot aufgefunden worden ist. Seiner Ansicht nach passt die Beschreibung auf unseren Hotelgast. Ich bin gekommen, um Ihnen das zu sagen.«
»Danke, Signor Toscano. Dann haben Sie also die Personalien des Mannes registriert?«
»Gewiss.«
»Bringen Sie mich in Ihr Hotel?«
»Ich stehe zu Ihrer Verfügung. Ich habe den Nachtportier gebeten zu warten.«
Der Ausweis, den der Hotelgast dem Portier überlassen, aber nicht wieder abgeholt hatte, war keine große Hilfe. Es war ein Pass der Europäischen Union, ausgestellt in Frankreich und vor zwei Jahren verlängert. Sein Inhaber hieß Émile Lannec und wurde am 3. September 1965 in Rouen geboren. Das kleine Foto zeigte das nicht weiter bemerkenswerte Gesicht eines Vierzigjährigen mit hellem Haar und breiten Schultern. Montalbano bildete sich ein, den Namen schon einmal irgendwo gehört zu haben. Er zerbrach sich den Kopf, aber es wollte ihm nicht einfallen.
Das Besondere an diesem Pass war, dass es keine einzige Seite gab, die nicht mit den Stempeln und Einreisevisa sämtlicher Länder Afrikas und des Nahen Ostens übersät war. In den vergangenen zwei Jahren war der Mann ständig auf Reisen gewesen. Er hatte den ganzen Erdball umrundet.
Émile Lannec. Der Name ging ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf. Irgendwie assoziierte er ihn mit dem Meer. Lannec musste irgendetwas mit dem Meer zu tun haben.
Womöglich hatte er ihn kennengelernt, als er mit Livia in Saint-Tropez war. Sie hatte auf dieser Reise bestanden. Er dagegen hätte sich am liebsten vor Wut die Kugel gegeben, weil er sich hatte breitschlagen lassen, diesen Ort zu besuchen,
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