Commissario Tron 5: Requiem am Rialto
natürlich.»
«Oder ein
Serienmörder. Jemand, der auch Comte de Chambord und auch Liebhaber eines jungen
Neapolitaners ist. Aber primär ein
Serienmörder.»
«Warum sagen Sie
das?»
«Weil eine
taktvolle Rücksicht auf den Ausweider fehl am Platz
wäre.»
Tron, der endlich
verstand, worauf der Ispettore hinauswollte, musste lachen.
«Bossi, ich will Ihnen erklären, warum ich mit Chambord
unter vier Augen sprechen muss. Der Comte wird gezwungen sein,
über Dinge zu reden, über die er nur höchst ungern
spricht. Wenn eine uniformierte Person dabei ist, hat diese
Unterredung den Charakter eines Verhörs. Und ich möchte
ein inoffizielles Gespräch mit ihm führen. Ich will, dass
er redet. Es kann sein, dass ihn jemand in
der Hand hat. Jemand, der zu viel über ihn
weiß.»
«Das halte ich
für spekulativ.»
«Wenn Sie die
Stimme des Comtes nicht wiedererkennen», sagte Tron,
«ist diese Überlegung mehr als eine Spekulation.»
Er sah Bossi an. «Erinnern Sie sich daran, was Sie in diesem
Fall sagen sollten?»
«Ich warte
auf Sie in der Questura.» Bossis Miene signalisierte, dass
er nicht damit rechnete, diesen Satz aussprechen zu
müssen.
«Genau.»
Tron bückte sich, um seinen Zylinderhut aus der Reichweite von
Bossis Stiefeln zu rücken. «Wenn ich Sie dem Comte
vorgestellt habe, übergeben Sie ihm die Schnupftabaksdose. Das
wird ihn überraschen und zu einem Kommentar veranlassen. Ein
paar Sätze sollten ausreichen, um seine Stimme
wiederzuerkennen — oder auch nicht. Anschließend lassen
Sie sich den Empfang des Stückes durch die Unterschrift Seiner
Hoheit bestätigen und gehen wieder.»
Bossis Mundwinkel
zogen sich beleidigt nach unten. «Ich muss also gehen, weil
Sie die Gefühle dieses Mannes nicht verletzen
wollen.»
«Weil ich seine
Aussage brauche», sagte Tron. «Es steht keineswegs
fest, dass es sich bei dem Ausweider um den Comte de Chambord
handelt.»
«Um wen denn
sonst, Commissario? Um Signor Sorelli? Oder um Pater
Francesco?»
«Ich weiß
es nicht. Und deshalb muss ich dieses Gespräch mit dem Comte
unter vier Augen führen.»
*
Wie bei Trons letztem
Besuch im Palazzo Cavalli dauerte es auch diesmal einige Minuten,
bis sich der Comte im Empfangssalon einfand. Während sie
warteten, bewunderte Bossi das Porträt des Sonnenkönigs
und registrierte das halbe Dutzend Schnupftabaksdosen auf dem
Konsoltisch. Tron war ans Fenster getreten und blickte auf die
gusseiserne Accademia-Brücke und den Canalazzo hinab. Ein
lockerer Möwenschwarm flog über die Brücke wie ein
Verbinde-die-Punkte-Rätsel, das ein Gesicht oder eine Faust
bedeuten konnte — oder auch irgendetwas, dachte Tron, das
keinen Sinn ergab.
Als der Comte de
Chambord schließlich erschien, machte er den Eindruck eines
Mannes, den man gerade in helle Aufregung versetzt hatte. Er schien
unangenehm überrascht zu sein, Tron und den Ispettore zu
sehen. An der Tür blieb er stehen und verbeugte sich knapp.
«Was können wir für Sie tun, Signori?» Das
klang nicht so, als hätte er große Lust, etwas für
seine Besucher zu tun.
Tron kam sofort zur
Sache. «Es hat sich etwas eingefunden», sagte er,
«das aus dem Besitz Seiner Hoheit stammen müsste.»
Bossi holte die Schnupftabaksdose aus der Tasche.
Beim Anblick des
Gegenstandes zogen sich die Augenbrauen des Comtes zusammen.
«Woher haben Sie dieses Stück?»
Tron antwortete mit
einer Gegenfrage. «Sind Hoheit sicher, dass diese Dose Ihrer
Hoheit gehört?»
Der Comte nahm die
Dose in die Hand, klappte den Deckel auf, schloss ihn wieder und
untersuchte den Boden. Schließlich nickte er. «Ja, sie
ist uns im letzten Monat abhandengekommen.»
«Wo abhandengekommen?»
«Irgendwo in
Venedig», sagte der Comte vage. Und dann, mit einem
nervösen Flackern in den Augen: «Woher wussten Sie, dass
es sich um unsere Schnupftabaksdose
handelt?»
«Das
erkläre ich Hoheit», sagte Tron mit einem Seitenblick
auf Bossi, «wenn Hoheit dem Ispettore den Empfang der Dose
quittiert haben.» Bossis Miene war noch nicht zu entnehmen,
ob er die Stimme des Comtes wiedererkannt hatte.
Tron räusperte
sich. «Sehe ich Sie nachher, Ispettore?»
Über diese Frage
musste Bossi noch ein wenig nachdenken. Schließlich sagte er
mit verdrossener Stimme: «Ich warte auf Sie in der
Questura.»
*
«Diese
Dose», sagte Tron, nachdem Bossi den Salon verlassen hatte,
«wollte ein gewisser Antonio Lupi an Monsieur de Sivry
verkaufen. Sie kennen das Geschäft von Monsieur de
Sivry?»
Als der Name Lupi
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