Commissario Tron 5: Requiem am Rialto
wieder auftauchenden
Gerüchte, er beziehe seine Artikel zu oft aus dubiosen
Quellen.
Also öffnete er
die Schublade wieder, nahm die Dose heraus und wickelte sie
sorgfältig in sein Taschentuch. Dann erhob er sich, zog seinen
Gehpelz über, hängte das CHIUSO-Schild an die Tür und
schloss sorgfältig ab. Bevor er aus den Arkaden der alten
Prokuratien auf den Markusplatz trat, spannte er seinen Regenschirm
auf. Es hatte wieder angefangen zu regnen, und er hasste es, wenn
sich das Wasser in der Krempe seines Zylinderhutes
sammelte.
*
Eine knappe Stunde
später stand Alphonse de Sivry im zweiten Stock eines
gepflegten Wohnhauses vor einer Tür, an der der Name Antonio
Lupi zu
lesen war. Als Commissario Tron dem Antiquitätenhändler
ein Zeichen gab, zog er den eisernen Klingelzug nach unten. Der
Commissario und der Ispettore hatten sich zu beiden Seiten der
Tür postiert — unsichtbar für denjenigen, der
öffnen würde. Der Ispettore, den Rücken an die Wand
gepresst, hielt augenrollend seinen Dienstrevolver im Anschlag. Der
Commissario hatte hingegen eine betont lässige Haltung
angenommen.
Offenbar schien ihm
das kriegerische Verhalten seines Ispettore
übertrieben.
Dass die Meldung eines
Diebstahls einen hektischen Polizeieinsatz auslösen
würde, hatte ihn überrascht. Denn am Anfang hatte sich
das Interesse des Commissarios, der gerade mit seinem Ispettore
einen Bericht schrieb, in Grenzen gehalten. Allerdings waren die
beiden sofort in helle Aufregung geraten, als sie
hörten, wem die Schnupftabaksdose gestohlen
worden war. Und nun stand er hier, mitten in einem Geschehen, das
er nicht begriff, und folgte Anweisungen, deren Sinn er nicht
verstand.
Nach dem zweiten
Klingeln waren tatsächlich Schritte im Flur zu hören.
Dann öffnete sich die Tür, und er blickte in das zuerst
erstaunte, dann erfreute Gesicht von Signor Lupi. Der, was die
ganze Angelegenheit ungeheuer vereinfachte, zu ihm sagte:
«Haben Sie schon einen Käufer
gefunden?»
Sivry, der sich auf
einmal wie Judas höchstpersönlich fühlte, sagte:
«Hier sind zwei Signori, die sich für die
Schnupftabaksdose interessieren.»
Womit — zu
seiner großen Erleichterung — sein Part beendet war. Denn jetzt
traten der Commissario und der Ispettore heran. Das Letzte, was
Sivry sah, waren die vor Schreck weit aufgerissenen Augen von
Signor Lupi.
Nein, dachte er, als
er wieder unten in der Calle Malvasia stand und seinen Regenschirm
aufspannte — er hatte wirklich nicht verstanden, worum es
hier ging. Aber der Commissario hatte keinen Zweifel daran
gelassen, wie sehr er ihm behilflich gewesen war. Für den
Moment musste das reichen.
46
Tron zog die Flasche
aus dem Champagnerkühler, verhedderte sich kurz mit der
weißen Serviette, die um den Hals geschlungen war, schaffte es
dann aber, sich ein weiteres Glas einzuschenken, ohne zu kleckern.
Ein Leistung, wenn man in Betracht zog, dass er den Champagner
bereits zu drei Vierteln geleert hatte und selten Alkohol trank. Er
ließ die Flasche wieder in ihr Eisbett zurückgleiten und
genoss das sonore Geräusch, mit dem die Eiswürfel
opernmäßig klickten und klackten. Schon dieser Klang,
fand Tron, konnte einen sensiblen Menschen in einen leichten Rausch
versetzen. Er streckte prostend das Glas über den Tisch, sah,
wie sich die Kerzen des Kronleuchters in dem Champagner spiegelten,
und intonierte:
Finch'hari dal vino, calda la
testa
Als die Principessa
die Augen nach oben drehte, brach er ab und räusperte sich
verlegen.
«Tu dir keinen
Zwang an,Tron», sagte die Principessa lächelnd. «Du
hast es dir verdient.»
Tron fand, dass das
Lächeln der Principessa dem einer Frau glich, die ihren
ansonsten wohlgeratenen Kindern an Geburtstagen etwas durchgehen
lässt. Würde sie ihn darauf hinweisen, dass er gerade
unglaubliche Mengen von Erdbeersorbet verspeist hatte? Dass
Erdbeeren im Winter nur zu unglaublichen Preise zu besorgen waren?
Würde sie die bescheidene Summe erwähnen, die er als
Commissario verdiente? Tron warf einen scheuen Blick über den
Tisch. Nein — das würde sie heute nicht tun. Sie
lächelte immer noch.
Sie hatten Lupi in
seiner Wohnung verhaftet, auf die Questura gebracht und den ganzen
Nachmittag lang verhört. Danach hatten sie, bereits im
Hinblick auf das Gespräch mit dem Comte de Chambord, ein
Protokoll angefertigt. Es gab keinen Grund, an den Aussagen Lupis
zu zweifeln, denn in der Wohnung fanden sich unter anderem
kompromittierende Briefe aus der Hand
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