Commissario Tron 5: Requiem am Rialto
Bekanntschaften im Mulino zu
machen pflegte. Aber was hätten sie damit gewonnen?
Er überlegte. Wie
lange hatte er mit der Frau im Mulino gesprochen? Höchstens
zehn Minuten. Nachdem sie sich verabredet hatten, war sie wieder in
der Menschenmenge verschwunden, und er hatte das Etablissement
kurze Zeit später verlassen. Mit einer schwarzen Halbmaske,
wie sie jeder zweite Venedigbesucher trug. Nein — es gab
keine Spur, die
zu ihm führte. Und dass das Regina e Gran Canal, in dem er
logiert hatte, von sich aus die Polizei benachrichtigen würde,
war eher unwahrscheinlich. Auch wenn er sich nach seiner
Rückkehr an der Rezeption wie ein Esel benommen
hatte.
Natürlich
wäre es nicht nötig gewesen, das Regina e Gran Canal Hals
über Kopf zu verlassen, wenn er nicht seine Hand auf den
Empfangstresen gelegt hätte, als er um seinen Schlüssel
bat — mitten auf das aufgeschlagene Gästebuch, auf dem
ein großer Blutfleck zurückgeblieben war. Und wenn er
nicht die Nerven verloren hätte, als ihm der Concierge anbot,
den Hotelarzt zu verständigen. Er war rot geworden, hatte
etwas Unverständliches gestammelt und war davongestürzt.
Im Zimmer hatte er festgestellt, dass seine Manschetten voller Blut
waren. Was der Concierge kaum übersehen haben
konnte.
Anschließend
hatte er sich auf das Bett gelegt und versucht zu rekonstruieren,
was geschehen war, nachdem er in der Pension festgestellt hatte,
dass die Frau gar nicht atmete. Er musste die Bettdecke
zurückgeschlagen haben, denn er hatte die Tote gesehen —
ein Bild, das so scharf war wie die französischen Fotografien,
die auf der Piazza verkauft wurden.
Die Frau hatte mit
leicht geöffnetem Mund auf der Seite gelegen, eine blonde
Strähne war über ihr rechtes Auge gefallen. Um ihren Hals
lief eine bläulich verfärbte Einkerbung, und es hatte
einen Moment gedauert, bis ihm klargeworden war, dass jemand sie
stranguliert hatte. Ein paar Sekunden länger brauchte er dann,
um zu begreifen, dass er bislang nur einen Teil des ganzen
Gräuels zur Kenntnis genommen hatte. Gewissermaßen den
unscheinbaren Anfang. Das Blut, das im Kerzenschein wie Rotwein
schimmerte, bedeckte ihren Körper unterhalb der Rippenbogen
und war in breiten Schlieren über Bauch und Oberschenkel
gelaufen. Und dann sah er auch die Wunde, aus der das Blut
ausgetreten war. Nicht dass er Wert darauf gelegt hatte, sie zu
betrachten, doch irgendetwas hinderte ihn daran, die Augen
abzuwenden. Es handelte sich um eine klaffende, längliche
Öffnung, die über dem Bauchnabel begann und schräg
nach unten lief, um dort in einer blutigen Pfütze zu
verschwinden. Ein Tropfen Blut hatte sich am Rand der Wunde
gesammelt, und er sah mit Entsetzen, wie der funkelnde Tropfen
dicker wurde und schließlich herabfloss.
Hatte er nach diesem
Anblick kurz das Bewusstsein verloren? Er wusste es nicht. Er
konnte sich nur daran erinnern, wie er vor dem Bett gekniet und auf
das würgende Geräusch gelauscht hatte, das aus seinem
Hals kam. Ein wenig später war er mühsam aufgestanden,
war zum Fenster getaumelt und hatte um Atem gerungen. Jedenfalls
hatte er irgendwann mit zitternden Händen die Bettdecke
über die Frau gebreitet. Dann hatte er das Zimmer verlassen
und es tatsächlich geschafft, das Vestibül zu durchqueren
und an dem Concierge vorbeizulaufen, ohne wie ein Betrunkener zu
taumeln oder gar zu straucheln. War es eine bewusste Entscheidung
gewesen, die pensione zu verlassen, ohne den
Vorfall zu melden? Nein, denn er war unfähig gewesen, einen
klaren Gedanken zu fassen.
Daran, wie er
zurück ins Regina e Gran Canal gekommen war, erinnerte er sich
nicht. Hatte er sich an jeder Ecke umgedreht, um festzustellen, ob
ihm der Mann, der ihm das Zimmer siebenundzwanzig geöffnet
hatte, gefolgt war? Der Mann, der vermutlich die Frau auf dem
Gewissen hatte? Auch das wusste er nicht. Sein Verstand war erst
wieder in der Lobby des Regina in Gang gekommen. Doch dass er dort
einwandfrei gearbeitet hatte, konnte man leider nicht
behaupten.
Zuckerkandl drehte
sich um, ließ den Musterkoffer mit den Messern aufgeklappt
auf dem Waschtisch stehen und setzte sich auf die Bettkante. Das
Zimmer lag im Erdgeschoss des Hotels, und er konnte die Kälte
spüren, die durch das brüchige Mauerwerk hindurch in den
Raum kroch. Eine nasse Kälte, die schuld daran war, dass das
Hemd mit den blutgetränkten Manschetten, das er zwischen zwei
Garderobenhaken aufgespannt hatte, immer noch nicht trocken war.
Wahrscheinlich wäre es klüger,
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