Commissario Tron 5: Requiem am Rialto
hat sie sofort erkannt und konnte mir auch sagen, wo sie
gewohnt hat.»
«Und
wo?»
«Am Campo San
Biagio», sagte Bossi. Und zwar direkt neben der
Kirche.»
«Woher wusste
der Kellner das?»
«Weil er selber
am Campo San Biagio wohnt.»
«Hat er sonst
noch etwas über die Frau sagen können? Hatte sie
einen rampane, einen
Zuhälter?»
«Das habe ich
ihn auch gefragt, aber davon wusste er nichts. Er sagte, sie
hätten nie miteinander gesprochen.»
«Hat die Frau
jetzt einen Namen?»
«Zumindest einen
Vornamen», sagte Bossi. «Sie heißt Gina. In dem
Haus ist eine Pasticceria. Ihre Wohnung liegt im zweiten
Stock.»
*
Das Haus am Campo San
Biagio war ein zweistöckiges Gebäude mit
abblätterndem Putz und grünlichen Fensterläden, die
dringend einen neuen Anstrich gebraucht hätten. Die
Pasticceria hatte geöffnet, und der Bäcker
bestätigte auf Nachfrage, dass zwei junge Frauen in der
Wohnung über dem Laden wohnten. Zwei junge Frauen? Ja —
zwei Putzmacherinnen, setzte der Bäcker
hinzu, ohne das Wort mit einem anzüglichen Unterton
auszusprechen. Offenbar war in der Nachbarschaft nichts
darüber bekannt, wie die junge Frau ihr Geld verdient hatte
— seltsam in einer Stadt wie Venedig, in der kaum etwas
verborgen blieb.
Erst nachdem Bossi zum
zweiten Mal an die Wohnungstür geklopft hatte, hörten sie
Schritte, die sich näherten. Dann schwang der
Türflügel nach innen, und eine junge Frau stand vor
ihnen. Wenn sie ebenfalls in dem Gewerbe tätig war, in dem
ihre Mitbewohnerin ihr Geld verdient hatte, sah man es ihr nicht
an. Sie trug ein schlichtes, bis zum Kragen geschlossenes Hauskleid
aus brauner Wolle. Ihre dunkelbraunen, fast schwarzen Haare hatte
sie zu einem Dutt hochgesteckt. Als ihr Blick auf Bossis Uniform
fiel, machte sie ein erschrockenes Gesicht und wich instinktiv
einen Schritt zurück.
Bossi legte
grüßend die Hand an seinen Uniformhelm, und Tron deutete
eine Verbeugung an. Dann fragte er: «Signora
...?»
«Signorina Querini»,
antwortete die junge Frau. Sie sah Tron, den sie sofort als den
Ranghöheren identifiziert hatte, misstrauisch an. «Worum
geht es?»
«Ich bin
Commissario Tron», sagte Tron. «Und das ist Ispettor
Bossi.» Er lächelte, um die Situation zu entspannen.
«Dürften wir Ihnen drinnen sagen, worum es geht,
Signorina?»
Signorina Querini
antwortete nicht. Sie zuckte nur resigniert die Achseln und trat
zur Seite. Als sie über die Schwelle traten, warf Tron einen
Blick in die Wohnung. Sie war unaufgeräumt und schien nicht
mehr als eine preiswerte Behausung zweier junger Frauen zu sein.
Tron konnte sich nicht vorstellen, dass hier Männer empfangen
wurden.
«Es geht um
Signorina Gina», sagte er, als sie einen Augenblick
später in der Küche Platz genommen hatten. «Ihren
Nachnamen kennen wir nicht.» Er gab Bossi, der die Fotografie
der Toten bereits aus der Tasche seiner Uniformjacke gezogen hatte,
den Wink, sie wieder einzustecken. «Signorina Gina wohnt doch
hier, oder?»
«Ja, Signorina
Calatafimi wohnt hier», bestätigte die Frau. Sie beugte
sich über den Küchentisch. «Ist ihr etwas
zugestoßen?»
Tron hatte nie viel
davon gehalten, in solchen Situationen die Wahrheit scheibchenweise
zu servieren. Er sagte in sachlichem Tonfall: «Sie ist
tot.»
Signorina Querinis
Kopf fuhr ruckartig nach hinten, so als hätte ihr jemand einen
Schlag versetzt. Dann zog sie ein Etui aus der Tasche ihres
Hauskleides, zündete sich eine Zigarette an und inhalierte
tief. Schließlich fragte sie, den Blick auf das glühende
Ende ihrer Zigarette gerichtet: «Hatte Gina einen
Unfall?»
«Sie wurde
gestern Nacht von einem Mann ermordet, den sie in der Locanda
getroffen hatte. Der Mörder konnte entkommen.» Tron sah
keinen Sinn darin, die genaueren Umstände des Verbrechens zu
schildern. «Könnte irgendjemand einen Grund gehabt
haben, Signorina Calatafimi zu töten?»
Signorina Querini zog
hektisch an ihrer Zigarette. Tron sah, dass ihre Hände
zitterten. «Ich weiß es nicht», sagte sie.
«Gina hat erst seit zwei Monaten bei mir
gewohnt.»
«Hat sie
für jemanden gearbeitet?»
Signorina Querini
schüttelte den Kopf. «Sie hatte keinen rampane, falls Sie das
meinen.»
«Und sie hatte
auch keinen ...» Tron brach den Satz ab, weil er nicht
wusste, wie er sich ausdrücken sollte. Keinen Bekannten?
Keinen Liebhaber? Keinen Hausfreund?
Signorina Querini, die
Trons Zögern bemerkt hatte, lächelte flüchtig.
«Ob sie einen Freund hatte? Nein, den hatte sie
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