Commissario Tron 5: Requiem am Rialto
Mundes und die kleinen Fältchen
neben den Augenwinkeln waren nicht mehr zu übersehen. In ein
paar Jahren würde auch mit reichlich Schminke nicht mehr viel
zu machen sein. Im letzten Dezember war sie achtundzwanzig
geworden, und es wurde langsam Zeit, sich aus diesem speziellen
Geschäft zurückzuziehen. Hin und wieder hatte sie mit dem
Gedanken gespielt, Venedig zu verlassen, zurück in das
heimatliche Friaul zu gehen und einen ehrbaren Mann zu heiraten
— jemanden, der von ihrer Vergangenheit nichts
wusste.
Aber sah sie sich
wirklich als Gattin eines Schreiners oder Bäckers? Mit
quengelnden Bälgern, die an ihrer Schürze hingen, und einem
dicklichen Mann mit Mundgeruch und Fußschweiß?
Gütiger Himmel — wahrhaftig nicht. Schon der Gedanke
daran war grauenhaft. Außerdem bestand immer die Gefahr, dass
irgendjemand aufkreuzte, der sie wiedererkannte. Und was dann? Auch
das war eine schreckliche Vorstellung.
Als die Eisenbahn
langsamer wurde und sich Fusina näherte, der kleinen Station
am Rand der nördlichen Lagune, hatte sich der Regen
verstärkt. Er prasselte in böigen Stößen auf
das Dach des Coupés und lief in bizarren Mustern die
Scheiben hinab. Ob jetzt noch jemand in ihr Coupé steigen
würde? Nein, das war unwahrscheinlich. Der Zug war schwach
besetzt, und in Fusina gab es nicht mehr als eine
österreichische Kaserne, ein hässlicher Backsteinkasten,
in dem ein Tiroler Pionierkorps logierte. Außerdem, sagte sie
sich, trat niemand, der bei Verstand war, bei solchem Wetter
freiwillig vor die Tür.
Aber als der Zug in
Fusina anhielt, stieg doch noch jemand zu. Es war ein Mann
mittleren Alters, der eine Regenpelerine trug und ihr vage bekannt
vorkam. Als er sah, dass sich eine Dame in dem Coupé befand,
murmelte er ein höfliches Permesso und deutete eine
Verbeugung an. Dann setzte er sich auf die gegenüberliegende
Bank. Livia Azalina fand es eigenartig, dass er seine Pelerine
nicht auszog. Zwei Minuten später stieß die Lokomotive
einen schrillen Pfiff aus, und die Waggons setzten sich ruckelnd in
Bewegung. Eigentlich hatte sie eine unverbindliche Bemerkung
über das schreckliche Wetter erwartet — die meisten
Männer fühlten sich in einer solchen Situation
bemüßigt, ein paar höfliche Worte zu wechseln.
Stattdessen blieb der Mann stumm wie ein Fisch. Dann tat er etwas,
das gegen alle Konventionen verstieß. Er beugte sich nach
vorne, und Livia Azalina registrierte verärgert, dass er sie
unverhohlen betrachtete - mit dem kühlen Blick eines Kunden,
der an einem Obststand die angebotenen Früchte prüft. Er
musterte ihre Lippen, ihren Hals und ihre Stirn. Dann wanderte sein
Blick zu ihrem blonden Haar, verweilte ein paar unhöfliche
Sekunden auf der Rundung ihrer Brüste, und schließlich
sah sie, wie sich seine Lippen zu einem zynischen Grinsen verzogen.
Plötzlich war sie sicher, dass der Mann wusste, in welcher
Branche sie ihr Geld verdiente.
Livia Azalina schloss
die Augen und nahm sich vor, den Burschen einfach zu ignorieren. Es
konnte nicht sehr lange dauern, bis der Zug die nördliche
Lagune überquert hatte und sie den Bahnhof erreichten. Nur ein
paar Minuten, in denen sie durchaus in der Lage war, sich den Mann
vom Leib zu halten. Es war weiß Gott nicht das erste Mal,
dass sie auf die Weise behelligt wurde. Und diese Situation hier
war eher lächerlich als bedrohlich. Wenn der Bursche sie
anfasste - mein Gott, woher kannte sie ihn? —, dann
würde sie sich am Bahnhof an einen der Sergenti wenden, die
auf dem Bahnsteig patrouillierten. Sie duckte sich instinktiv in
die Polsterung ihrer Rückenlehne zurück und versuchte,
sich auf das Rattern der eisernen Räder zu konzentrieren. Was
nicht funktionierte, denn durch das Geräusch hindurch glaubte
sie auf einmal zu hören, wie der Mann aufstand.
Als sie die Augen
aufschlug, sah sie, dass der Bursche sich tatsächlich erhoben
hatte. Er stand jetzt unmittelbar vor ihr. Sein Kopf schwebte
über ihr wie ein bleicher Mond, die beiden Arme hingen aus den
Seitenschlitzen der Regenpelerine herab wie zwei gewaltige Pendel.
Um seine Lippen spielte immer noch das zynische Grinsen, aber seine
Augen waren kalt wie Eis. Auf einmal wusste Livia Azalina, dass
etwas nicht stimmte — dass etwas überhaupt nicht
stimmte.
Dann schnellte das
rechte Pendel nach vorne und schoss auf ihr Gesicht zu. Der
Faustschlag traf ihren Mund und schleuderte ihren Kopf gegen die
Scheibe. Ein Schneidezahn brach ab und zerschnitt ihre Lippen.
Über ihre Unterlippe
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