Coolman und ich. Rette sich, wer kann. (German Edition)
1. Kapitel
SOS – Kai in Not
Stellt euch ein altes Rettungsboot vor. So ein rotes aus Holz mit zwei Rudern und einem daumendicken Leck in den morschen Planken. Das Boot treibt auf stürmischen Wellen im Ärmelkanal. Irgendwo zwischen England und Frankreich.
Könnt ihr euch das vorstellen?
Okay.
Über dem Boot kreist ein Schwarm Möwen. Wie die Geier warten sie auf das Ende des Jungen mit dem komischen Hut auf dem Kopf. Leichenblass hockt er in der Pfütze auf dem Bootsboden und flüstert leise »SOS«, als könnte er damit die Royal Navy zu Hilfe rufen.
Habt ihr das?
Sehr gut, denn dann wisst ihr jetzt auch, wer ich bin. Ich bin der Junge in dem Boot. Mein Name ist Kai, und ich hätte nichts dagegen, den Möwen über mir den kleinen Gefallen zu tun und zügig zu sterben.
Wart ihr schon mal seekrank? Ich meine jetzt nicht, dass euch ein bisschen übel war, weil ihr in einem Ausflugsbötchen über den Rhein geschippert seid und dabei zu viel Käsekuchen gefuttert habt. Ich meine, so richtig seekrank. Wenn nicht, habt ihr keine Ahnung, wovon ich rede. Das ist schlimmer als Durchfall, Masern, Windpocken, Vogelgrippe, Rinderwahnsinn, Röteln, Beulenpest und eine Fischvergiftung gleichzeitig.
Aber das ist noch nicht das Schlimmste.
Das Schlimmste ist: Ich bin nicht allein in dem Boot.
Am Bug steht ein Typ mit einem Cape und einer Augenmaske, der sich dem Sturm entgegenstemmt und lauthals Seemannslieder grölt.
Kennt ihr COOLMAN? Wohl kaum, denn ich bin der Einzige, der ihn sehen kann. Er begleitet mich, seit ich vier bin, und ich würde alles dafür geben, dass es anders wäre. Ich habe schon alles probiert, um ihn loszuwerden. Das könnt ihr mir glauben. Aber COOLMAN ist immer da, ob es mir passt oder nicht. COOLMAN ist mein Schicksal und ich kann nichts dagegen tun.
Drei Gründe, warum wir uns das Feuer sparen können:
1) Es ist viel zu stürmisch für ein Feuer.
2) Das Wasser, das durch das Leck ins Boot fließt, würde die Flammen sowieso sofort löschen.
3) Die Leute auf der Fähre haben mein plötzliches Verschwinden vom Achterdeck längst bemerkt.
Sie haben mir ja auch ihr löchriges Rettungsboot ins Wasser geworfen, damit ich nicht ertrinke, während sie ihren Riesenpott wenden, um mich wieder herauszufischen.
Es ist leichter, ein Walross in einer Badewanne umzudrehen als eines dieser Riesenschiffe mitten auf dem Meer. Das kann dauern. Zeit genug, um euch zu erzählen, wie ich in dieses Boot gekommen bin. Und warum ich den Originalhut des berühmten britischen Seehelden Admiral Horatio Nelson auf dem Kopf trage. An beidem ist – Überraschung! – COOLMAN nicht ganz unschuldig.
Also spule ich jetzt einfach zurück. Stellt euch vor, es ist zwei Wochen früher und ich sitze auf der Rückbank im Wagen meiner Eltern.
Seid ihr so weit?
Gut, dann beeile ich mich lieber, ehe das Boot endgültig absäuft oder ich vor lauter Seekrankheit auch noch anfange zu kotzen.
ZWEI WOCHEN FRÜHER
»Es wird dir gefallen. Da bin ich ganz sicher!« Meine Mutter dreht sich zu mir um und schenkt mir ihr strahlendstes Lächeln. Sie kann das, sie ist Theaterschauspielerin. Genau wie Papa. Man weiß bei den beiden nie genau, ob sie es ernst meinen oder nur eine Rolle spielen. Zum Beispiel die Rolle der fürsorglichen Eltern, die sich um die Schulkarriere ihrer Kinder sorgen. Dabei sind sie einfach nur froh, zwei Wochen für sich allein zu haben.
Wir sind auf dem Weg zum Schulparkplatz. Da startet der Bus, der uns zur Fähre bringt. Das Schiff wird uns über den Ärmelkanal nach England schippern, dann geht es weiter nach London. Dort warten zwei Wochen Sprachferien auf mich.
Das verdanke ich COOLMAN. Meine Englischlehrerin, die alte Meier, hat gesagt, mein Englisch sei
awful
. COOLMAN hat behauptet,
awful
bedeute so viel wie
fantastisch,
einzigartig,
unübertrefflich.
Es stimmt eben nicht. Aber ich habe es ihm ein ganzes Jahr lang geglaubt und es im Unterricht ruhiger angehen lassen.
Mein größter Fehler:
Ich höre zu oft auf COOLMAN, obwohl ich es längst besser wissen müsste.
Erst als ich die Fünf in Englisch hatte, habe ich das Wort im Wörterbuch nachgeschlagen.
Da stand es schwarz auf weiß:
Awful
bedeutet nicht »fantastisch, einzigartig, unübertrefflich«, sondern
furchtbar,
schrecklich,
grauenhaft.
Mein einziger Trost ist, dass das Englisch meiner großen Schwester Anti auch nicht besser ist als meines und sie mich deswegen begleitet. Da muss ich wenigstens nicht allein fahren.
Ich
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