Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)
Kurbel. Ich erinnere mich an die Erektion, die ich vor fünfzig Jahren dabei hatte. Um ihm nicht zwischen die Beine zu starren, drehe ich mich schnell um, spüle die Cafetiere aus und trage Tassen, Zucker, Dosenmilch und etwas Gebäck, das ich noch im Küchenschrank hatte, auf einem Tablett ins Wohnzimmer.
Als ich wieder in die Küche komme, hat Darius das Pulver schon in die Kanne gefüllt.
Wir hängen im Vertrauten. Selbst in unseren Tätigkeiten. Die Gegenwart ist für den Hunger da, für Durst, für die Dusche, die täglichen Bedürfnisse. An ihr hangeln wir uns durch den Weg unserer Erinnerungen. Aber die Nähe, die wir beide fühlen, steckt noch in der Vergangenheit. Sie ist da, als wäre sie nie verschwunden, sie begleitet uns. Aber sie ist noch nicht im Heute angekommen.
Im Wohnzimmer setzen wir uns auf die Couch, ich räume die Fernbedienungen vom Tisch und lege sie auf das Fernsehgerät. Ich gieße Kaffee ein, biete Gebäck an. »Möchtest du Zucker, nimmst du Milch?« Das sind die Fragen, die ich stelle. Aber nicht: »Was hast du die Jahre über gemacht, wo hast du gelebt, wo möchtest du heute Nacht schlafen?«
Er hat keine Wohnung. Es wäre doch auch ein tägliches Bedürfnis der Gegenwart, ihm mein Gästezimmer oder die rechte Seite meines Doppelbetts anzubieten.
»Siehst du keine Nachrichten?«, fragt Darius.
»Möchtest du sie sehen?«, frage ich zurück.
Er nickt. Und obwohl ich mich wohl mit ihm fühle, empfinde ich Bild und Ton der Tagesschau wie eine Rettung. Ich hätte es unhöflich gefunden, den Fernseher anzuschalten.
Tagesschau ist Gegenwart und Vergangenheit. Nicht die Zukunft, deren Fragen in meinem Kopf schwirren. Was hat er vor, was möchte er, das ich vorhabe? Die Frage nach dem, was kommt, vermeiden wir. Die Angebote und Wünsche sprechen wir nicht aus. Finden sie in ihm überhaupt statt? Die Zukunft blockiert die Gegenwart und hält uns gleichzeitig in ihr gefangen. Wir sehen Nachrichten und im Anschluss daran den Spielfilm, wir trinken Kaffee und Wein, wir essen Kekse. Wir schalten ins dritte Programm zur Talkshow, doch es scheint egal, was wir sehen, solange wir nicht reden müssen, sondern nur unsere Gegenwart genießen können.
Ich öffne eine zweite und eine dritte Flasche Riesling, werde langsam betrunken. Was Darius auch noch vorhaben mag, ich werde ihn nirgends mehr hinfahren können.
Wir sitzen beide auf dem Sofa, auch, wie vor fünfzig Jahren. Aber damals herrschte unausgesprochene Einigkeit wenigstens über die nächste Zukunft. Wir waren ungefähr im gleichen Alter, unsere Körper zogen sich an und wir wussten, wir durften uns berühren, denn Sex war das Ziel, der Kaffee das Vorspiel.
Oder sind wir uns in unseren Körpern auch jetzt klar darüber, was passieren wird, wissen es nur noch nicht? Hat Darius nicht längst Fakten geschaffen, als er seine Wäsche gewaschen und meinen Bademantel angezogen hat?
Es wird Mitternacht, die aktuelle Talkshow endet, die Talkshow Classics beginnen. Ich bin betrunken und müde. Normalerweise schaue ich um diese Zeit noch kurz das letzte Mal in die E-Mails, fahre den PC in meinem Arbeitszimmer herunter und gehe ins Bett. Normalerweise onaniere ich noch einmal, bevor ich mich auf die Seite drehe und einschlafe. Der Mangel an Gelegenheit vertilgt nicht das sexuelle Bedürfnis. Auch Darius gähnt herzhaft, trinkt den letzten Schluck Wein aus seinem Glas. Zum ersten Mal an diesem Abend vor dem Fernsehgerät legt er seine Hand auf meinen Oberschenkel. »Es ist so schön, dich nach all den Jahren wiederzusehen«, sagt er, lässt die Hand liegen und wartet.
»Ja, das finde ich auch«, antworte ich. »Schön, fremd und doch vertraut.«
»Lass uns ins Bett gehen.« Für ihn ist es also klar. Es ist keine Frage, ob es mir recht wäre, es ist auch keine dreiste Selbstverständlichkeit. Die Ruhe, in der er es sagt, wirkt, als lägen keine fünfzig Jahre zwischen uns.
Ich nicke, schalte den Fernseher ab. Wir stehen auf, tragen die Gläser und Flaschen in die Küche und gehen nach oben. Ich zögere ein wenig, bevor ich mir zum Putzen der Zähne das Gebiss herausnehme und eine Reinigungstablette in Wasser auflöse. Darius zögert nicht, setzt sich währenddessen ohne Hemmungen auf die Toilette, wäscht sich noch einmal, bedient sich an der Mundspülung, die auf meinem Schrank steht, und hängt
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