Der Sturm
Prolog
Vorabend zum 11. November 2010
Heilige Maria, Mutter Gottes ! Heilige Jungfrau über allen Jungfrauen !
Julia kämpfte sich den Weg entlang. Überall stand das Wasser und machte das Vorwärtskommen schwer. Seit letzter Nacht regnete es immerzu und dazu dieser ekelhafte Wind, der ihr den kalten Regen ins Gesicht schlug.
Warum ihr ausgerechnet heute diese blöde Litanei in den Kopf kam, konnte sie nicht verstehen. Es war ja nicht so, dass Julia religiös erzogen worden wäre, obwohl – immerhin hatte sie eine katholische Schule in Berlin besucht.
Julias Blick ging zum Himmel. Kein einziges Loch, nicht die kleinste Lücke war in dem dunklen, wolkenverhangenen Himmel zu erkennen.
11. November. Remembrance Day. Der Tag, der Toten zu gedenken. Julia war seit über einem Monat nicht mehr am Gedenkstein gewesen, und als sie an diesem Morgen aufgewacht war, hatte sie auch noch nicht geplant, hierher zu gehen. Und dann plötzlich, während Brandons Philosophieseminar und seinen öden Ausführungen zu Friedrich Nietzsche, waren ihr die Heiligen eingefallen. Was umso verwunderlicher war, da sie kaum noch auf Deutsch dachte. Selbst wenn sie mit ihrem Bruder Robert alleine war, sprachen sie Englisch.
Wieder peitschte der Wind ihr den Regen ins Gesicht – riesige, fast waagrechte Tropfen, wie graue Fäden, die sich wie Nadelstiche im Gesicht anfühlten. Winterkälte hing in der Luft. Sie war viel zu dünn angezogen für dieses Wetter und bereits völlig durchnässt. Um sie herum nichts als graugrüner Wald aus Fichten, die in den dunklen Himmel stachen. Sie glichen einander, weil sie alle um dasselbe Ziel kämpften – Licht.
Die Bäume mit ihren kahlen Ästen reckten ihre skelettartigen Zweige irgendwie grotesk in den Himmel und Julia hatte Mühe, durch den feuchten, nassen Waldboden zu stapfen. Ihre Schuhe waren jedenfalls ruiniert.
Sie hatte keine Blumen dabei, im gesamten College waren keine aufzutreiben gewesen, nicht einmal diese künstlichen Mohnblumen, die man in Kanada am Remembrance Day auf die Gräber legte. Sie kam sich nackt vor, als ob sie mit leeren Händen zum Grab ihres Vaters ging. Nein, nicht zu seinem Grab. Aber zu der einzigen Gedenkstätte, die sie hier oben hatte.
Heilige Perpetua!
Dieser Name hatte ihr immer am besten gefallen.
Ihr heiligen Märtyrer, bittet für uns!
Vielleicht hatte sich diese Aufzählung auch nur in ihr Gedächtnis gebrannt, weil sie sich zusammen mit ihren Klassenkameradinnen über die Namen kaputtgelacht hatte, damals bei den Schulgottesdiensten in der Aula. Und vielleicht war wohl auch so etwas wie Hoffnung hängen geblieben, in wirklich beschissenen Situationen im Leben könnten diese Heiligen tatsächlich helfen.
Julia wurde langsamer, als sie endlich an der Brücke anlangte, hinter der das Sperrgebiet begann. Von hier aus zweigte der Weg zur Lichtung mit dem Gedenkstein ab.
Durch die heftigen Niederschläge des letzten Tages, teilweise Regen, teilweise Schnee, hatten sich die Holzbohlen der Brücke mit Feuchtigkeit geradezu vollgesaugt. Julia spürte unter den Sohlen ihrer Turnschuhe, wie glitschig sie waren.
Und der Wasserfall schoss mit voller Wucht die Felsen herunter. Das Tosen ging Julia durch Mark und Bein. Ihr Gesicht war bereits völlig nass.
Sie stemmte sich gegen den Wind und blickte zurück zum College. Fast alle Räume in den oberen Stockwerken des Hauptflügels waren hell erleuchtet, dazu noch die Seminarräume, die Mensa und die Empfangshalle. Das College wirkte wie ein Fremdkörper in dieser Landschaft. Etwas, das man mitten in die Natur gestellt hatte und das hier nicht hergehörte.
Die hellen Lichter erinnerten Julia einen Moment lang an die Titanic und daran, wie dieser Riesendampfer, dem Untergang geweiht, mitten in der Nacht direkt auf den Eisberg zusteuerte.
Nur dass es keine Nacht war, sondern einfach nur ein regnerischer Tag im November.
Und dass sie nicht auf einem Ozean waren, sondern im Tal.
Was manchmal aufs Gleiche hinauskam, dachte Julia.
Trügerisch schön. Gottverlassen. Und unvorstellbar grausam.
Sie biss die Zähne zusammen und folgte dem engen Trampelpfad durch das Unterholz. Unwillkürlich wurde sie schneller. Etwas an diesem Ort zog sie magisch an, dann wieder fühlte sie sich abgestoßen.
Warum kam sie nur immer wieder hierher?
Weil du diesen Ort brauchst, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf.
Julia hatte Chris nicht erzählt, warum sie einmal im Monat zum Gedenkstein ging, um Blumen niederzulegen. Und sie hatte
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