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Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Titel: Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil , Florian Tietgen
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Auf dem Land hielt man nicht viel von Städtern. Sie galten als hochnäsige, lebensfremde Theoretiker, denen man zeigen musste, wie wenig Wissen zählte, wenn es an Kraft fehlte. Der misstrauische Blick des Händlers warnte mich. Ich wartete auf eine Antwort, auf irgendeinen Kommentar, aber bevor er etwas erwidern konnte, schlurfte ein Mann mit schweren Beinen an den Tresen, dessen weiße und faltige Haut beängstigender wirkte als das Misstrauen des Händlers. Er trug einen Hut mit Gamsbart, ein für die Jahreszeit viel zu dünnes Oberhemd und lederne Hosenträger. Das Gesicht war hager, das Haar, trocken und grau, zu einer Tolle frisiert, wie Elvis sie trug. Der Mann war barfuß und hätte er ein Geweih getragen, wäre er als Wolpertinger durchgegangen. Dem erschreckenden Aussehen nach war er mindestens hundert Jahre alt. Weiter reichte meine Vorstellung nicht.
          »Loss guad sei, Gregoa, dea junge Mo wohnt im Aloisiushaus. Oiso gib ihm, wos a wui. Er is doat zua Gost«, sagte er mit fester und klarer Stimme und legte dem Händler eine Hand auf den Arm. Mir zwinkerte er zu, als hätten wir ein Geheimnis. Der Händler veränderte sich. Das Gesicht immer noch voller Skepsis lief er dienstbeflissen durch den Laden, um mir alles zu bringen, was ich bestellte. Brot, Butter, Streichhölzer, Schinken. Nicht viel, aber mehr, als ich mir vorgenommen hatte. Und immer, wenn ich aufhören wollte, fragte mich der Händler gezielt, ob ich nicht noch Eier oder Milch bräuchte, Äpfel, Mandarinen, Schokolade, Kekse, einen Kuchen. Jedes Mal nickte der Greis und wie unter Hypnose nickte ich wortlos mit. Der Händler füllte meinen Rucksack und schrieb die Waren und deren Preise mit einem Bleistift auf einen Block.
          »War's des jetzt?«, fragte er, als ihm nichts mehr einfiel, das er mir anbieten konnte. Sein Ton war devot aber genervt. An den ruckartigen Bewegungen, mit denen er sich über den Tresen bückte und den Bleistift beim Addieren der Zahlen über den Bock kratzte, merkte man, wie wenig ihm die Situation passte. Als er sich aufrichtete, mich ansah und den Mund öffnete, fuhr ihm der Wolpertinger darüber: »Er is zua Gost.«
          »Herrgottssakrament, is ja schon guad.« Es schien, als platzte dem Händler langsam der Kragen, aber er warf noch eine weitere Schachtel Zigaretten in den Rucksack und sagte »Pfürti Gott.«
          Ich hatte mein Portemonnaie in der Hand, darum besorgt, mit dem Geld nicht auszukommen, aber der Händler schüttelte den Kopf, der Greis fasste mir mit festem Griff auf die Schulter und schob mich aus dem Geschäft. »Lass es dir schmecken«, sagte er mit immer noch fester Stimme. »Und genieß die Zeit hier. Ich bin sicher, du findest die Antworten, die du suchst.«
          Ich schaffte es gerade, »Danke« zu sagen und freundlich zu nicken, dann stand ich wieder in der Winterluft, hörte die Glöckchen, die an der Tür des Ladens klingelten, und sah den Wolpertinger nicht mehr.
          Hatte ich geträumt? Dazu war mein Rucksack zu schwer und zu prall gefüllt. Alle Waren, die ich bestellt hatte, befanden sich darin. Zu ratlos, um mich zu freuen, steckte ich das Portemonnaie in die Manteltasche. Eher mangels Alternativen, denn aus eigenem Willen, ging ich zur Hütte zurück, zum Aloisiushaus, wie der Wolpertinger es genannt hatte.
          Als ich ankam, glomm das Feuer noch, die Hütte war warm. Ich stellte den Rucksack ab, packte nur den Kuchen aus, legte Holz nach, ohne zu denken, kochte mir Kaffee, aß von dem Kuchen, zog einen dicken Pullover an und ging wieder nach draußen. Während der Zigarette fiel mein Blick auf den Baumstumpf, auf dem ich am Morgen gesessen hatte, auf die Axt, die darin steckte und die mich nicht im geringsten verwunderte. Die Kippe trat ich vor der Tür aus, um sie später mit hineinzunehmen. Zunächst musste ich Holz hacken, Scheit für Scheit, es an der Wand der Hütte stapeln, damit es trocknen konnte. Erst, als keine Stämme mehr dalagen, die ich zerkleinern konnte, hörte ich auf. Ich fragte mich nicht, woher das Holz kam und nicht, warum ich erst jetzt die Dunkelheit bemerkte. Drinnen brannte es im Ofen, als wäre keine Zeit vergangen. Auch den Herd musste ich nicht anfachen, um Wasser im Kessel und Suppe in einem Topf zu erhitzen. Aus dem Schlafzimmer holte ich mir eines der vielen Bücher. Meine Wahl fiel auf ›Der Nigger von Scharhörn‹ von Hans Leip, obwohl mir der Name des Autors und die Insel Scharhörn unbekannt

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