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Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Titel: Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil , Florian Tietgen
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Freien zu schlafen. Es macht mir nichts aus. Es hat mir während des Ersten Weltkriegs nichts ausgemacht, als ich im Luberon auf den Feldern schlief, den Bauern bei der Wein- oder Lavendelernte half und mich vor Häschern der Armee versteckte. Es hat mir nichts ausgemacht, als im März 1920 in Bochum die Kumpels der Zechen auf den Milchzug aus Münster warteten, Arbeiterwehren bildeten, gegen den Kappputsch marschierten und die Reaktion bestreikten. Es hat sich immer eine Ecke gefunden, in der ich schlafen konnte, egal, wie die Zeiten waren. Also vergiss den Gedanken ganz schnell wieder.«
          Er berührt mich doch gar nicht, streicht nicht über meine Haut. Wie kann er trotzdem meine Gedanken lesen? Ich beiße mir auf die Lippe, als würde das den Fluss der Worte in meinem Gehirn stoppen.
          Schweigen.
          Tarpenbekstraße.
          »Vielleicht schaffen wir es mit Geduld?«
          »Ich werde mir Mühe geben.«
          Sein Vortrag hat etwas bewirkt. Ich mache mir weniger Gedanken um uns, als um Darius. Was hat er alles erlebt? Wäre es nicht viel spannender, davon zu erfahren, als in der verletzten Eitelkeit meines Ego nach einer Entscheidung für die Zukunft zu suchen?
          »Mach dir nicht so viele Gedanken«, sagt Darius, als wir durch den Maienweg fahren. »Du wirst vieles davon erfahren.«
          Kurz schaue ich zur Seite, sehe den Zwanzigjährigen dort sitzen, fühle mich als Greis, fühle mich als Kind, das von ihm an die Hand genommen wird. Ich muss unbedingt das Thema wechseln, sonst werde ich noch unruhiger. Ich kann die Hoffnungen und Ängste, die Widersprüche und Merkwürdigkeiten nicht so einfach abschalten wie das Autoradio.
          »Hast du Hunger?«
          »Ja.«
          

12.
          
          Ich hatte mich in den Schlaf geweint, nicht vor Trauer, nicht vor Ärger über die mir genommene Zukunft, sondern vor Glück. Alle Anspannung hatte mir Darius genommen und mich in einen Taumel gestoßen. Mit den Tränen waren die Ängste gewichen, nur die Gegenwart war wichtig geblieben, nur sie hatte ich mit in die Dunkelheit genommen, in den Traum einer Gegenwart, die schon deshalb nicht so bleiben konnte, weil es ein Gesetz dagegen gab.
          Aber die Tage in der Hütte konnten wir so verbringen, als könnte die Gegenwart immerwährende Realität sein.
          Wir standen morgens auf, wenn die Sonne den Himmel erhellte, obwohl sie sich hinter Wolken versteckte, tranken Kaffee, aßen etwas, belegten uns Brote und gingen wandern. Wir blieben in den unteren Berghängen, der Schnee lag nicht so hoch, dass wir etwas riskierten. Wir wanderten am Oberschwarzenberg, am Mittelberg, zum Grüntensee oder zum Bahnhof, fuhren mit der Bahn nach Pfronten, um von dort aus am Schönkahler zu laufen. Es kam uns nicht auf die Aussicht an, nur darauf, fern von den Menschen gemeinsam zu sein. Wir wanderten wie Freunde, gaben uns unterwegs keine Küsse, nahmen uns nicht in den Arm, sondern reichten uns höchstens die Hand, um uns über schwierige Wegstrecken zu helfen. Oft hielten wir an, lauschten in die Kälte, in den Schnee, in den Winterschlaf der Natur, in die Pause, die wir uns von Leben nahmen. Wir wanderten schnell genug, um ins Schwitzen zu kommen, doch trotz dicker Strümpfe und guter Schuhe hatten wir jeden Tag kalte Füße.
          Kamen wir abends zur Hütte zurück, mussten wir immer erst heizen. Es war ausgekühlt dort, die Füße brannten eisig, wir froren, bis das Holz in Herd und Ofen es schaffte, uns wieder mit Wärme zu erfüllen. Die Dosensuppen, die wir dabei hatten, erfüllten ihren Zweck. Und wie auch immer sie wirklich schmeckten, mit Darius war es mir egal. Ich aß sie einfach. Wir hätten während der Rückwege unserer Touren einkaufen können, um etwas Ordentliches zu kochen, doch wir kamen gar nicht auf die Idee. Wir freuten uns auf die Suppen.
          Abends, wenn wir gegessen hatten und uns wieder warm war, spielten wir Schach. Wir hatten unter dem Tresen ein altes Brett und einen Kasten mit Figuren gefunden, der offenbar während der Saison zur Zerstreuung an Gäste verliehen wurde.
          Ich war ein schlechter Schachspieler. Egal, ob ich die weißen oder die schwarzen Figuren hatte, ich verlor immer. Darius konnte die Züge benennen, die er setzte, konnte vorausblicken, Konsequenzen erahnen, während ich einfach auf Geratewohl mit Bauern, Läufern und Türmen hantierte. Taktik war mir fremd. Schon mein Vater und

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